Neuland
du’s sehen, das Kanzleramt, den Bundestag, alles haben sie neu gebaut, auf der Grenzlinie, um den Eindruck zu schaffen, dass man einen neuen, gemeinsamen Weg gehen will.
Wie kam es eigentlich, dass ihre Mutter nie Touristen geführthatte?, fragte sich Inbar, es würde gut zu ihr passen; sie stellte so gern ihr Wissen zur Schau.
Sie begannen ihre Tour zu den zentralen Touristenattraktionen der Stadt, und unterwegs erzählte ihre Mutter allerlei Anekdoten, die das Ganze, das musste Inbar zugeben, durchaus bereicherten. Hier, in diesen Springbrunnen, haben die Studenten bei den Demonstrationen in den sechziger Jahren Seife gekippt, und dann ist der Schaum auf den Platz gequollen und hat den gesamten Verkehr lahmgelegt. Stell dir mal vor! … Und jetzt schau dir den Fernsehturm mal gut an. Unter der Antenne, in dieser Zwiebel, siehst du, wie die Sonnenstrahlen sich da auf den Scheiben brechen? (Inbar sah nichts, aber es war ihr unangenehm, das zu sagen.) Du kannst dir vorstellen, wie peinlich es für die ostdeutschen Kommunisten war zu entdecken, dass an Sonnentagen ein christliches Kreuz an der Spitze ihres wichtigsten Monumentes aufschien?!
Während ihre Mutter auf dem Fluss der Informationen surfte, hob Inbar den Blick zu den Dächern der Häuser und suchte den Engel. Von Wim Wenders. Mit siebzehn hatte sie Der Himmel über Berlin gesehen und war mittendrin auf den zu gut gepolsterten Sitzen der Cinemathek in Haifa eingeschlafen. Noch ein Film eben, hatte sie ihre begeisterten Mitschülerinnen im künstlerischen Zweig des Gymnasiums gern provoziert, doch letztes Jahr hatte sie ihn im Kabelfernsehen noch einmal gesehen und war fasziniert (vielleicht war sie inzwischen mehr auf die Gnade von Engeln angewiesen). Ihre Mutter erzählte unterdessen von einer wunderbaren Sammlung impressionistischer Künstler, die sich in der Alten Nationalgalerie befinde, zu der sie jetzt gingen, und Inbar erinnerte sich, wie im Film von Wenders die Gedanken der Personen in Klammern erschienen, und plötzlich kam ihr die Idee, eine ganze Geschichte zu schreiben, die in Klammern stand, d. h., der erste und der letzte Satz der Geschichte würden normale Sätze einer Handlung sein, aber dazwischen, in Klammern, Dutzende Seiten Erinnerungen, freie Assoziationen, erotische Fantasien. Sie zog den Reißverschluss ihrer Tasche auf, um ihr Reisetagebuch herauszuholen und diesen Gedanken festzuhalten, doch dann überlegte sie es sich anders, denn ihre Mutter würde sie fragen, was sie da aufschreibe, und schon eine einzige kritische Bemerkung von ihr könnte den so unsicheren Schwung, den Inbar seit Beginn der Reise empfand, ausbremsen, so wie damals, am Ende der Purim -Aufführung in der achten Klasse, Mutters Bemerkung (»schade nur, meine Liebe, dass du ein bisschen die Wörter verschluckt hast«) ihren Traum, Schauspielerin zu werden, zerschlagen hatte.
Hörst du mir überhaupt zu? Die Mutter stoppte plötzlich ihren Redefluss.
Ja … doch … natürlich … das ist sehr interessant.
Denn wenn es dich nicht interessiert, können wir auch zur nächsten Station weitergehen.
Ehrlich gesagt, ich habe mich gerade gefragt, wo das Gebäude ist, auf dem der Engel in Der Himmel über Berlin steht.
Aus der Anfangsszene?
Ja.
Auf der Siegessäule, erklärte ihre Mutter, die Berliner nennen sie »Goldelse«. Bismarck hat sie aufstellen lassen, und Albert Speer, der Naziarchitekt, hat sie verpflanzt. Die kommt erst etwa in der Mitte unserer Tour, erklärte sie, als hätten sie von Anfang an eine feste Tour verabredet, und nach ein paar Sekunden des Schweigens korrigierte sie sich: Wir können da aber auch jetzt hingehen, wenn du möchtest. Es gibt einen schönen Weg durch den Park.
*
Ein Zwillingskinderwagen kam ihnen entgegen, und Inbar bereitete sich schon auf eine Antwort vor, falls ihre Mutter sich nicht beherrschen und einen Satz sagen würde, in dem die Wortverbindung »biologische Uhr« vorkam. Ihre Mutter beherrschte sich. Man konnte es an ihrem tiefen Atem hören, der nah an einem Seufzen war. Danach kamen junge Leute und Radfahrer. Ohne Kinder. Gelassen. Als hätten sie es nicht eilig.
Weißt du, dass Bruno an der Produktion von Der Himmel über Berlin beteiligt war?, fragte sie jetzt.
Welcher Bruno? Dein Bruno?
Ja, er hatte damals eine Filmgesellschaft, und das ist einer der Filme, die sie produziert haben. Er hat richtig mit Wim Wenders zusammen im Schneideraum gesessen. Frag ihn, wenn dich das interessiert.
Und was hat er
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