Neuland
einen Schluckauf bekam, wobei er abwechselnd auf sie und ihre Mutter zeigte und sagte: Ihr seid euch wirklich ähnlich, hat euch das schon mal jemand gesagt?
Lili
Das ist neu, denkt Lili nach einem kurzen Telefonat mit Ejtan, Inbar geht abends schon um neun ins Bett? Merkwürdig. Sie geht doch nie vor elf oder zwölf schlafen. Verdächtig ist auch, dass Inbar sie nicht zurückgerufen hat, nachdem sie ihr in den letzten Tagen zwei Nachrichten auf Band gesprochen hat. In der Regel ruft sie umgehend und gerne zurück und beginnt das Gespräch immer mit ihrem schönen, warmen »Omilein«.
Ihre Enkelin fehlt ihr. Mit ihrer Tochter war alles so belastet und ärgerlich; Hanna war von Anfang an Natans Tochter gewesen. Na, und Natan war schon tot. Sie ist nicht wie ihre Freundinnen, die auf den Friedhof gehen und den Würmern ihr Leben erzählen. Das sind sowieso tolle Freundinnen. Mit denen, die noch nicht gestorben sind, kann man nur noch über Krankheiten reden, oder über die Philippinas, die sie pflegen. Oder über Politik, und einige von ihnen haben im letzten Jahr sowieso angefangen, Humbug zu reden (ich spüre, die Deutschen rücken näher, hatte Else ihr beim letzten Telefonat gesagt. Ich rieche den Geruch gefrorener Kartoffeln von ihren Uniformen). Sollte sie; Lili will, wenn sie einmal damit anfängt, ihre Klarheit zu verlieren, abtreten. Schlaftabletten oder eine Schlinge, das hat sie noch nicht entschieden. Hauptsache, sie wird nicht zur Witzfigur. Zur Anekdote in einer Talkshow. Am Freitag hat sie auf dem Gesundheitskanal einen Spezialisten für Alzheimer gesehen, der Witze über seine Kranken erzählte. Was ist das für eine verrottete Welt, wo ein Arzt öffentlich so redet, ohne einen Anflug von Schamesröte auf dem Gesicht?
Bisher funktioniert ihr Hirn noch ganz gut, meistens wenigstens. Und dieses Hirn meldet, dass etwas mit Inbar nicht stimmt. Mütter erzählen immer, dass sie ihre Kinder in ihrem Körper spüren. Mit Hanna hat sie das nie erlebt. Seit dem Tag ihrer Geburt hatte ihre einzige Tochter etwas an sich, was hartnäckig auf Distanz ging und nur von ihr wich, wenn ihr Vater sie umarmte. Und auch mit ihrem Enkel, Joavi, hat sie das nicht erlebt. Vor dem Unglück hatte sie keine prophetischen Gedanken, und sie hatte auch nichts Körperliches gespürt. Und als die Hiobsbotschaft kam – am Telefon, am Schabbatmorgen, es hatte dreimal geklingelt, bevor sie abnahm –, packte sie ein Schwindel, und sie war auf dem Stuhl zusammengeklappt, wie alle.
Nur Inbar, die spürte sie immer. Vor Jahren, erinnert sie sich, am Tag, an dem die Berliner Mauer fiel, hatte sie gerade alle Schlagzeilen der ersten Seite der Zeitung ausgeschnitten und abgelegt, da breitete sich in ihr plötzlich das starke und klare Gefühl aus, dass Inbar gar nicht weit von ihr entfernt gerade von jemandem gekränkt wurde, und sofort war sie in die Küche gegangen und hatte für sie den Honigkuchen gebacken, den sie so mochte, und danach hatte sie sich hingelegt, um auszuruhen, damit sie die Kraft haben würde, das verletzte Herz ihrer Enkelin zu trösten, ihre Enttäuschungen zu lindern. Zum soundsovielten Mal.
Schon als Kind, als ganz kleines Mädchen, war Inbar zu waghalsig gewesen. Sie erinnert sich an eine Szene: Jossi, Inbars Vater, war mal wieder auf einem Kongress, natürlich, was sonst, und Hanna hatte sie gebeten, ob sie in ein Hotel zu einem Urlaub mitkäme,den sie bekommen hatte, und ihr ein bisschen mit den Kindern helfen würde. Am Ende der Lobby, hinter einer Glastür, war ein Zimmer mit Computerspielen. Das Glas war so gut geputzt, dass Inbar meinte, die Tür sei offen, nichts trenne sie vom Objekt ihrer Neugier. So war sie aufgestanden und losgerannt – bis sie ziemlich groß war, ist sie immer nur gerannt, nie gelaufen –, mitten in die Glastür. Sie weinte nicht nach dem Aufprall, keine einzige Träne, doch beinahe sofort wuchs auf ihrer Stirn eine große rote Beule. Hanna bat um Eiswürfel aus dem Hotelrestaurant, und lange Stunden drückten sie Eisbeutel auf Inbars Stirn, bis die Schwellung zurückging. Doch am nächsten Tag hatte man das Glas wieder zu gut geputzt. Wieder saßen sie abends nach einem erlebnisreichen Tag in der Hotellobby. Und wieder: Inbar – ein Blick – ein Sprint – ein Schlag.
Was soll aus dir werden, hatte Hanna gerufen, wirst du denn nie lernen?
Es stimmt nicht, dass sie nicht lernt, hatte Lili ihre Enkelin verteidigt, sie gibt einfach nicht auf !
Immer hat sie sie in Schutz
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