Neuland
wohlfühlte. In rasender Geschwindigkeit entwickelte sie das Gefühl, dass sie anders war als alle anderen, dass allen etwas gemeinsam war, an dem sie keinen Anteil hatte. Und auch hier lief es genauso. Die vier anderen, die mit ihr hineingerufen wurden, schienen ihr so richtige Tel Aviver zu sein, erfahren und gelassen, sie klangen für Inbar wie echte native speakers , und sie hatten so viele interessante Hobbys, von denen sie erzählen konnten, und als schließlich sie an die Reihe kam – sie hätte sich freiwillig als Erste melden müssen, warf sie sich vor –, war das im Zug angesammelte Selbstvertrauen längst verflogen und sie stammelte ein paar Worte von zionistischer Gesinnung, und warum es ihr wichtig sei, in die Delegation aufgenommen zu werden, und sie hörte sich sagen, ihr Hobby sei Tennis (im Leben hatte sie noch keinen Tennisschläger gehalten) und sie wolle diese Chance unter anderem dazu nutzen, die großen Tennisspielerinnen in einem richtigen Stadion und nicht nur im Fernsehen zu erleben. Die Ausschussmitglieder senkten verlegen den Blick, und danach hätte Inbar nicht mehr auf das ausgehängte Blatt mit den Namen warten müssen, um zu erfahren, dass sie nicht dabei war, aber sie wartete trotzdem, hob den Blick zu der Korktafel und schüttelte einen Knaben aus Ramat Aviv ab, der ausgewählt worden war und ihr von oben herab die Hand auf die Schulter legte, und ging dann langsam zum Bahnhof, der Wind schlug ihr ins Gesicht, und im Zug, auf dem Platz ihr gegenüber, saß ein Mann und las Zeitung, und als er sie umdrehte, um das Bild der jungen, knackigen Soldatin auf der Rückseite zu betrachten, fiel Inbars Blick auf die Schlagzeile: »Berliner Mauer gefallen«.
Auch Großmutter Lili – nur zu ihr konnte sie in dieser Verfassung gehen – empfing sie mit der Titelseite in der Hand. Endlich kommst du, rief sie und küsste sie auf beide Wangen. Sie trug das Kleid, das sie nur anzog, wenn Gäste kamen. Ihr bläuliches Haar war wohlfrisiert, sie hatte die Augen leicht geschminkt, und auf der Brust lag ihre Perlenkette. Warum bist du so festlich angezogen, Omilein?, fragte Inbar, gehst du heute aus? Und Großmutter Lililachte: Ich? Ausgehn? Und wohin genau? Twist tanzen in einem Nachtclub? Ich hab mich festlich angezogen, weil heute ein Festtag ist. Heute ist der Krieg endlich wirklich zu Ende, Inbar.
Für ihre Großmutter gab es nur einen Krieg, den Zweiten Weltkrieg. Den Krieg, in dem sie ihre gesamte Familie verloren hatte. Den Krieg, aus dem sie im letzten Moment gerettet wurde. Alle israelischen Kriege, die später kamen und die sie selbst miterlebt hatte, erschienen ihr geradezu provinziell, sie bereiteten ihr Sorge, machten ihr aber keine Angst, erforderten gewisse Vorbereitungen, aber nicht die Entwurzelung ganzer Familien. Überhaupt war Großmutter Lili eine Expertin im Proportionieren: Jede Notlage verglich sie mit einer noch größeren Misere und dämpfte damit ihre böse Pracht. Regen, der durch die Decke kam? Wir haben auch schon in Baracken gewohnt. Eine Nierentransplantation? Was ist das verglichen mit einer Herzverpflanzung? Ein gebrochenes Herz? Bloß gut, dass ihr nicht verheiratet seid, sonst müsstet ihr euch jetzt mit Anwälten rumschlagen.
Bei einer anderen Großmutter könnte dieses Herunterproportionieren verdammt nerven, doch Großmutter Lili betrieb es auf so anmutige Art. Zuerst erkundigte sie sich: Warum siehst du so bedrückt aus, meine Enkelin? Danach machte sie ihr ein Glas Tee mit Milch, schnitt eine Scheibe Honigkuchen ab und legte sie auf ein eigenes Glastellerchen, damit der Kuchen nicht feucht wurde, denn ein feuchter Kuchen sei wie ein Kuss mit zu viel Spucke, und dann trug sie Glas und Tellerchen ins Wohnzimmer, mit Händen, die jedes Jahr mehr zitterten, stellte sie auf den kleinen Tisch vor dem Sofa und sagte, trink, solang der Tee heiß ist, und, schau mal, Tsipke Fayer, mein Feuervogel, das ist wirklich eine Enttäuschung, ich weiß, wie sehr du mit dieser Delegation mitfahren wolltest, aber das sagt gar nichts über dich aus. Das zeigt nur, wie dumm diese Leute dort sind.
Aber ich wollte so sehr fahren, Omi! Eine salzige Träne fiel in ihren Tee mit der Milch. Ich halte es nicht mehr aus mit ihr, fügte sie hinzu, und beide wussten, wer gemeint war.
Nun, Inbarninka, stell dir vor, sie hätten dich genommen, und dann wäre dein Flugzeug von Terroristen entführt worden. Auf der dritten Seite in der Zeitung haben sie heute so eine Warnung
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