Neuland
genommen. Sie konnte es nicht ertragen, wenn Hanna Inbar anschrie und Joavi so offensichtlich bevorzugte. Schau doch, welche Mengen sie verdrückt, sagte Hanna, und sie konterte: Willst du, dass sie so wird wie du, spindeldürr? Schau doch, wie ihr der Busen raushängt, sagte Hanna aggressiv. Lass sie doch, antwortete sie, sie hat eine schöne Brust, warum soll sie sich dafür schämen? Inbar blieb in ihren Augen ein mutiges Mädchen. Unermüdlich schickte sie, ohne Wissen ihrer Mutter, Briefe an die Jugendseite des Maariv , in der Hoffnung, dass man sie eines Tages doch mal abdrucken würde. Und sie ging weiter mit diesem Freund von der Luftwaffe, obwohl sie wusste, dass er ihr das Herz brechen würde. Und wie sie im Grundwehrdienst eine Revolte gegen ihre Kompanieführerin organisiert hatte, obwohl sie wusste, dass das bestraft würde!
So war sie gewesen, bis Joavi. Dann, auf einen Schlag, hatte sie ihren ganzen Wagemut mumifiziert. Etwas in ihr war erstarrt odererwachsen geworden oder einfach trauriger. Jedenfalls hörte sie auf, mit dem Kopf durch durchsichtige Glastüren zu wollen.
Etwas passiert mit Inbar, spürt Lili jetzt. Schon ein paar Tage spürt sie es und wartet, dass sie diese Sache nicht länger vor ihr verheimlicht, damit sie ihr wieder einen Honigkuchen backen kann.
Bis es so weit ist, setzt sie sich jeden Abend auf ihren Erinnerungsstuhl. Es gibt einen Stuhl, einen ganz schlichten Küchenstuhl – wenn sie sich gegen Abend auf den setzt, in einem ganz bestimmten Winkel zum Fenster schaut und den Ventilator auf Stufe zwei stellt, nicht auf eins und nicht auf drei, und ein Glas Tee in der Hand hält, normalen Wissotzky, nicht eine dieser neuen Sorten mit ihren lächerlichen Namen, dann kommen ihr die Erinnerungen von jener Schiffsreise so klar wie die Wasser des Ozeans.
Inbar
In Daten war sie noch nie gut gewesen, aber an den Tag, an dem die Berliner Mauer fiel, erinnerte sie sich genau. Neunter November neunundachtzig. Am selben Tag hatte sie in Tel Aviv ein Vorstellungsgespräch bei der Jewish Agency für eine Jugenddelegation. Die Mitglieder der Delegation sollten für ein halbes Jahr in den USA leben, jeder in einer anderen Stadt, und dort in den jüdischen Gemeinden Vorträge halten. Die Auslese war sehr streng. Nach einem Jahr mit Prüfungen und Interviews, die überall im Land durchgeführt wurden, war die Liste auf zwanzig junge Männer und Frauen geschrumpft, aus denen ein Gremium nun zehn auswählen musste. Ein Vertreter der amerikanischen Juden war extra angereist, um in dieser letzten Auswahlphase dabei zu sein. Die Sekretärin hatte dies bei einem Anruf hervorgehoben und ihr nebenbei mitgeteilt, dass das Gespräch deshalb – oh no! – auf Englisch stattfinden würde.
Am Abend davor beriet sie sich mit ihrer Mutter, was sie anziehen sollte, und wie immer stritten sie sich zum Schluss. Ihre Mutter meinte, sie müsse sich nicht wie eine Erwachsene anziehen, denn es sei schließlich eine Jugenddelegation. Was willst du dann? Dass ich da in Minirock und Trägerhemdchen antanze? Weißt du, sagte ihre Mutter, du kennst meine Meinung zu Miniröcken … ich bin mir nicht sicher, wie gut dir das steht, aber eine dunkle Jeans und eine Bluse würden den Zweck schon erfüllen. Dann sag doch gleich, dass du mir deinen Rock nicht geben willst! Inbar zahlte es ihr heim, und ihre Mutter schrie: Ist es auch nur ein einziges Mal vorgekommen, dass ich dir ein Kleidungsstück geliehen habe und es nicht mit einem Fleck oder einem Riss zurückbekam?
Ruhe, rief Joavi, ich kann mich nicht konzentrieren. Er saß mit der Gitarre da und versuchte, zum tausendsten Mal Nothing else matters zu spielen.
Mach, was du willst, beendete ihre Mutter das Gespräch mit ihrem Standardsatz, dessen Ton genau das Gegenteil besagte. Und Inbar wollte nur nichts wie weg aus diesem Haus. Vor allem weg von ihr.
Im Zug nach Tel Aviv, kurz vor Binyamina, erschrak sie. Plötzlich fürchtete sie, sie habe sich im Datum geirrt und die Auswahl habe tatsächlich schon am Tag zuvor stattgefunden. Mit zitternden Händen öffnete sie ihre Tasche und suchte die Einladung. Donnerstag, neunter November. Heute! Richtig! Sie meinte jemanden zu hören, der Englisch sprach, und schaute sich um – auf der andern Seite des Ganges in der Reihe hinter ihr saß ein amerikanisches Touristenpaar und unterhielt sich. Wild entschlossen, sich auf Englisch warmzureden, nahm sie ihre Tasche und setzte sich ihnen gegenüber. Das war gegen die
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