Neumond: Kriminalroman (German Edition)
zu tun?
»Jetzt beruhige dich doch, Helen.« Ein Pfleger reichte ihr ein Taschentuch. »Niemandem ist geholfen, wenn du jetzt einen Nervenzusammenbruch kriegst.«
»Ich könnte Maria anrufen«, schlug eine Schwester vor, die Frau Hanauer nicht kannte. »Sie könnte heute deinen Dienst übernehmen.«
»Schon gut«, sagte Helen. »Ich möchte hier sein, wenn er zurückkommt.«
»Adelheid.« Salm hatte Hanauer bemerkt. »Wie schön, dass du wieder da bist. Ist das nicht alles ganz furchtbar?«
»Ja, Kindchen.« Hanauer tätschelte Salms Hand. »Ganz, ganz furchtbar. Es ist ein Schock für uns alle.«
»Dieser furchtbare Polizist.« Schwester Helen schnäuzte sich. »Es ist alles seine Schuld.«
»Sie sollten nicht so streng sein«, sagte Hanauer. »Er macht doch nur seine Arbeit. Außerdem macht der arme Mann einen ziemlich mitgenommenen Eindruck auf mich. Wenn Sie mich fragen, geht es ihm gesundheitlich nicht gut.«
Salm nickte. »Ja, Stress und Übergewicht sind eine schlechte Kombination.«
Hanauer lächelte und warf einen Blick auf die Uhr. Mittlerweile war eine knappe Dreiviertelstunde vergangen. Morell sollte also schon längst tot sein. Wie gut, dass Salm gleich auf ihre Bemerkung über seinen Gesundheitszustand eingegangen war. Niemand würde sich groß wundern, dass er einfach umgekippt und gestorben war. Tragisch, aber so war das Leben nun mal.
»Ich werde mich zurückziehen. Ich bin ziemlich erschöpft. Was für ein aufreibender Tag.« Sie verabschiedete sich und rollte zurück in ihr Zimmer.
Als sie die Tür öffnete, überlegte sie, mit welcher Masche sie den zu Hilfe eilenden Schwestern und Ärzten am besten begegnen würde und erstarrte.
Dort wo Morell vorhin gelegen hatte, war nur eine kleine, handtellergroße Blutlache zu sehen.
Hektisch ließ sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Wo war er bloß? Hatte ihn etwa schon jemand gefunden? Aber wer? Und vor allem wann?
64
»Suchen Sie etwa mich?« Morell war hinter Frau Hanauer ins Zimmer getreten. Seine angeknackste Nase war bandagiert, aber sonst sah er den Umständen entsprechend recht fit aus.
Sie starrte ihn an, als hätte sie einen Geist gesehen. »Aber Sie … Sie müssten doch längst am Unterzucker … Wie haben Sie …?«
»Sig.« Er setzte sich aufs Bett. »Als ich vorhin in meine Jacke gegriffen habe, habe ich nicht nach meinem Handy gesucht, sondern danach.« Er hielt ihr ein angeknabbertes braunes Etwas vor die Nase. »Da ist ganz schön viel Zucker drin. Zum Glück war heute so viel los, dass ich völlig vergessen habe, den Sig aus meiner Jacke zu nehmen. Mein Großvater war Diabetiker, darum weiß ich, dass man bei Unterzuckerung mit Kohlehydraten gegensteuern kann. Vor allem mit zuckerhaltigen Lebensmitteln. Ein Hoch auf die süßen Sachen.«
Sie schwieg und starrte auf den braunen Klumpen, als wäre es das Ekligste, das sie jemals in ihrem Leben gesehen hatte – was in diesem Moment wahrscheinlich auch so war.
»Oliver?«, rief Morell, und sofort tauchte der junge Polizist in der Tür auf. Morell hatte ihn angerufen und wieder zurück ins Sanatorium zitiert. »Du darfst jetzt die Verhaftung vornehmen.«
Oliver strahlte bis über beide Ohren. »Meine erste Verhaftung«, sagte er zu Frau Hanauer. »Sie werden für immer etwas Besonderes für mich bleiben. So etwas vergisst man wahrscheinlich nie. Mei, bin ich vielleicht aufgeregt. Ich …«
»Halt einfach den Mund, und tu, was du zu tun hast«, fauchte sie ihn an.
Er las ihr ihre Rechte vor und schob sie nach draußen.
»Wart im Auto auf mich. Ich komme gleich nach«, sagte Morell. Er wollte sich bei Schwester Elvira für die Verarztung bedanken und dabei eine Packung Schmerz- und Erkältungsmittel abstauben.
»Herr Morell?« Anna Oberhausner kam auf ihn zu. An ihrer Hand hatte sie den kleinen Patrick, der ihn mit großen Augen anschaute. »Wir hatten einen Termin bei Dr. Bertoni, aber er ist anscheinend nicht da. Jede Schwester, die ich nach ihm frage, gibt mir eine andere Auskunft. Wissen Sie vielleicht, was los ist?«
»Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Am besten, Sie suchen sich einen neuen Arzt.« Denn Ihrer ist ein Mörder, der jetzt zerschmettert am Grund der Schlucht liegt, fügte er in Gedanken hinzu.
»War das der Tatzelwurm?«, fragte Patrick und zeigte auf Morells lädiertes Gesicht.
»Nein«, lachte der. »Das habe ich mir geholt, als ich einen bösen Mann verfolgt habe. Dabei bin ich auf einem Tatzelwurm geritten.«
»Oh.« Patrick war
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