Neumond: Kriminalroman (German Edition)
seit nunmehr 45 Tagen die Stadt belagerte, und versuchte, nicht zu verzagen. Der Feind war übermächtig. Die Anzahl der Lagerfeuer, die rund um Wien brannten, war um eine Vielzahl größer als die der Sterne am Himmel. Es mussten Hunderttausende sein. Und wie viele Verteidiger waren sie noch? Fünf- vielleicht Sechstausend? Und täglich wurden es weniger. Die andauernden Gefechte und die grassierende Ruhr forderten viele Opfer. Kranke und Sterbende lagen auf den Straßen und untergruben mit ihrem Wehklagen die Moral der Bevölkerung.
Kein Wunder, dass der Ruf nach Kapitulation immer lauter wurde. An jeder Straßenecke und in jeder Spelunke wurde darüber geredet, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben. Die Leute hofften, dass die Türken Gnade walten und sie in Richtung Westen abziehen lassen würden, doch er wusste es besser. Es würde keine Gnade geben. Er hatte dem Feind ins Gesicht geschaut und den Hass in seinen Augen gesehen. Die wilde Entschlossenheit zu töten. Den unbändigen Wunsch nach Vernichtung. Eine Kapitulation käme einem Todesurteil gleich.
Noch war der Stadtkommandant, Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg, stark und gewillt, die Stadt zu halten – doch es konnte nicht mehr lange dauern, bis feige Zungen, das Wehklagen der Kranken und die hungrigen Gesichter seiner Schutzbefohlenen ihn davon überzeugen würden aufzugeben.
Jakob fuhr mit beiden Händen durch sein dichtes, dunkelbraunes Haar, das seit ein paar Wochen von weißen Strähnen durchzogen wurde, kontrollierte seine Muskete und grübelte. Seine Frau Anna war im achten Monat schwanger. Er würde bald Vater werden und durfte nicht zulassen, dass sie und ihr gemeinsames Kind in die Hände des Feindes fielen. Er musste irgendetwas tun – aber was?
Eine Kanonenkugel schlug nur wenige Meter von ihm entfernt in die Bastei ein und brachte den Boden unter seinen Füßen zum Zittern. »Halt durch, altes Mädchen«, murmelte Jakob, ging in die Hocke und tätschelte die staubigen Mauersteine. Dann blickte er noch einmal auf das übermächtige, türkische Heer und kämpfte gegen die Hoffnungslosigkeit, die in ihm hochstieg.
Hoffnung, das war es, was Wien brauchte. Nach und nach entwickelte sich ein Plan in seinem Kopf. Ihn in die Tat umzusetzen wäre purer Selbstmord – doch war ein Verbleiben in der Stadt ohne zu handeln nicht genau dasselbe? Er dachte an Annas kugelrunden Bauch, in dem sein Erstgeborener heranwuchs, und machte sich auf den Weg zu Starhemberg, um ihm von seinem Entschluss zu berichten.
2
Wien heute
Hundstage. Die heißesten Tage des Jahres verwandelten die Stadt in einen Backofen, der die Wiener seit mittlerweile zehn Tagen in ihrem eigenen Schweiß schmoren ließ. Jene Menschen, die kein Geld oder keine Zeit für einen Urlaub in kühleren Gefilden hatten, flüchteten in schattige Parks und klimatisierte Büros, oder sie ölten sich ein und quetschten sich wie Sardinen in eines der zahlreichen Freibäder.
Genauso wie Hektik oder Hunger, war Hitze keines jener Dinge, die unbedingt das Beste in den Wienern zur Geltung brachte: Schwitzflecken wohin man nur schaute, ungepflegte Füße in offenen Sandalen, gerötete Gesichter und das penetrante Odeur von Achselschweiß dominierten die Stadt.
Dazu kam das Gejammer. Der typische Wiener, der von jeher der Raunzerei sehr zugetan war, fand sich bei diesen Temperaturen wieder voll in seinem Element. Damals, unter’m Kaiser, da hätte sich die gelbe Sau, wie die Sonne gerne tituliert wurde, sowas noch nicht getraut. Aber heute, wo die Amis, die Russen, die Deutschen und überhaupt alle anderen das Klima ruinierten, da mussten die armen Wiener das wieder mal ausbaden.
Eine der wenigen, die neben Freibadbetreibern und Eissalonbesitzern nicht über die Hitze jammerte, war Dr. Nina Capelli. Dank ihrer Tätigkeit als Gerichtsmedizinerin verbrachte sie die Tage im gut klimatisierten Obduktionssaal oder der noch besser gekühlten Leichenhalle. Heute trug sie schwarze Jeans und einen beigen Pulli unter ihrem Kittel, und nichts lag ihr ferner als zu schwitzen.
»Was liegt denn heute an?«, fragte sie Jochen Kern, ihren Assistenten, als sie den Obduktionsraum betrat, schob ihre Hornbrille zurecht und band sich das kinnlange, braune Haar zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammen. »Sonnenstich oder Kreislaufkollaps?« Sie streifte sich die obligatorischen Gummihandschuhe über und trat an die Bahre, auf der sich, unter einem weißen Leinentuch, der Umriss eines menschlichen
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