Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
ist.
Nichts wünsche ich mir mehr, als jetzt in diesem Moment bei ihr sein zu können, sie in den Armen zu halten, ihre Küsse auf meiner Haut zu spüren und sie mit meiner Liebe zu durchfluten. Mein Verlangen nach ihr würde mir die Sinne rauben und mich unberechenbar machen, aber das ist inzwischen nicht mehr das Entscheidende für mich. Wenn Jolin mich auch nur ansatzweise so sehr liebt wie ich sie, würde sie nach einer weiteren Liebesnacht mit mir an der bevorstehenden, unumgänglichen Trennung endgültig zerbrechen. Ihr so etwas angetan zu haben, würde ich mir niemals verzeihen.
Die Liebe meiner Mutter zu einem Menschen ist reiner Irrsinn gewesen. Mich in die Welt zu setzen war falsch, Ramalias größter Fehler aber war, dass sie Vincents Verwandlung verhindert hat. Sie hätte weder Jolin schützen noch die Ereignisse beeinflussen dürfen.
Aber das Schicksal kennt keine Gnade, ich kann ihm nicht entfliehen, im Gegenteil, es hat mich längst schon wieder eingeholt.
Die Tränen, die mich in der Containersiedlung überwältigt haben, galten nicht meinem Vater, sondern Jolin. Die Erinnerung daran, wie es war, als ich sie dort zum ersten Mal sah, hat mich komplett umgehauen, und während ich nun über die Stadtautobahn rase, läuft alles, was ich bisher mit ihr erlebt habe, im Zeitraffer ab. Die Bilder haben eine vollständige Geschichte, einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Es geht nicht mehr um uns und schon gar nicht um mich, sondern einzig darum, wie ich Jolins Leben jetzt noch retten kann.
Diesmal parke ich den Wagen hinter dem Haus, ich steige über den Zaun und nähere mich zögernd der Eingangstür, und obwohl ich ihn genau hier in dieser Sekunde und an dieser Stelle erwartet habe, erwischt seine Stimme mich eiskalt.
»Möchtest du dich vielleicht an meiner Brust ausweinen, kleiner Bruder?«
»Jolin, bist du das?«, rief Paula Johansson aus der Küche.
Jolin antwortete nicht. Leise zog sie die Tür zu, stellte ihre Schuhe ab und hängte den Mantel an die Garderobe. Es war warm, es roch nach Essen, alles war so, wie es immer war und wie sie es über viele Jahre so sehr geschätzt hatte. Ihre Mutter, ihr Zuhause, Wärme, Liebe, Geborgenheit.
»Jolin?«
Sie zog den Riemen ihrer Umhängetasche etwas strammer über die Schulter und versuchte ihre Chancen einzuschätzen, unbemerkt an der offenen Küchentür vorbeizuhuschen. Natürlich waren sie gleich null, denn bereits in der nächsten Sekunde tauchte Paulas Gesicht auf. »Warum sagst du denn nichts?«
Jolin zuckte mit den Schultern. Sie wollte nicht reden. Nicht jetzt und schon gar nicht mit ihrer Mutter. Doch so einfach ließ Paula ihre Tochter nicht entkommen.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte sie besorgt. »Du bist so blass. Und wo hast du Rouben gelassen? Ist er gar nicht mitgekommen?«
»Früher hast du nicht so viele Fragen auf einmal gestellt«, erwiderte Jolin. Sie schob sich an der gegenüberliegenden Wand entlang auf ihr Zimmer zu, so als fürchtete sie, ihre Mutter könnte urplötzlich wie eine Spinne auf sie zuspringen und sie in die Küche zerren.
Tatsächlich ließ Paulas Blick sie nicht los.
»Früher habe ich ja auch so viele Antworten von dir bekommen, dass ich überhaupt keine Fragen stellen musste«, sagte sie sanft, doch der Vorwurf war nicht zu überhö- ren.
»Ma, mir ist nicht gut. Ich muss noch eine Zusammenfassung für Geschichte schreiben und Deutsch und Mathe machen.«
Paula runzelte die Stirn. »Jetzt gleich?«
»Ja.« Hastig ging Jolin an ihr vorbei und drückte die Tür zu ihrem Zimmer auf.
»Aber vorher isst du noch was.«
»Nein – ich habe keinen Hunger.«
»Dann bringe ich dir eben später etwas. – In einer Stunde?«
»Ma, das ist nicht nötig. Ich melde mich schon.« Jolin sah ihre Mutter eindringlich an. Lass mich in Ruhe, wollte sie damit ausdrücken, und es schien zu gelingen.
»Also gut«, gab Paula nach. »Dann bis später.«
Jolin nickte und schloss die Tür. Sie drehte den Schlüssel herum, warf sich aufs Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Am nächsten Morgen sahen die Dinge schon etwas anders aus. Jolin hatte viel geweint und kaum geschlafen, doch mit der einsetzenden Dämmerung hatte sich schließlich ein Gefühl der Nüchternheit in ihr ausgebreitet, das den tiefen Schmerz in ihrem Herzen betäubte und sie alles ein wenig klarer sehen ließ.
Wenn Rouben diesen Abstand so sehr brauchte, dann sollte er ihn auch bekommen. Jolin wollte nicht schwach sein. Vor allem aber wollte
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