Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
verletzlichere stellen. Rouben sollte ihr nun wirklich nicht vorwerfen können, dass sie ihn in irgendeiner Weise unter Druck setzte.
»Warte doch mal«, sagte er plötzlich überraschend dicht hinter ihr, und im nächsten Moment spürte sie auch schon seine Hand, die sich zaghaft auf ihre Schulter legte. »Ich möchte dir etwas vorschlagen.«
Jolin blieb so abrupt stehen, dass er nicht rechtzeitig abbremsen konnte und gegen sie stieß. Hastig machte er einen Schritt zurück.
»Entschuldige.«
»Schon gut«, sagte Jolin. »Damit komme ich klar.«
»Und womit kommst du nicht klar?«
»Wenn du mich belügst.«
»Das tue ich nicht.«
»Du hast mir nicht gesagt, dass du Harro kanntest.«
»Aber das ist doch nicht wahr, Jol! Im Gegenteil, ich habe es nie bestritten, ich wusste nur bis eben nicht, dass er mir etwas bedeutet hat.« Wieder berührte er ihre Schulter. »Könntest du mich bitte ansehen?«
Jolin schloss kurz die Augen. Sie wusste nicht, ob sie es ertrug, und gleichzeitig wollte sie nichts mehr als das. Schließlich drehte sie sich zögernd zu ihm um.
»Bitte versteh mich doch. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, hat sich meine Perspektive schon wieder ein wenig verschoben. Manche Empfindungen haben sich verstärkt, andere sind abgeschwächt, und einiges ist völlig neu für mich. Ich habe gespürt, dass sich auch die Gefühle für meinen Vater verändern«, erklärte Rouben ihr. »Und ich wollte es ausprobieren, ich konnte aber überhaupt nicht einschätzen, wie ich reagieren würde, wenn ich sein Grab und den Wohncontainer sehe.« Seine Augen waren noch immer feucht. »Und deshalb wollte ich es nicht alleine tun. Ich wusste, dass ich mich sicherer fühle, wenn du dabei bist. Es tut mir sehr leid, wenn ich dich damit überfordert habe. Ich hätte es vorher mit dir besprechen sollen.«
Jolins Herz fühlte sich an, als ob es davonfliegen wollte. Was war sie nur für ein dummes Schaf!
»Schon gut«, sagte sie. »Es ist alles meine Schuld. Nicht du überforderst mich, sondern ich dich. Bitte verzeih mir, dass mir das erst jetzt klargeworden ist. Ich verspreche dir hoch und heilig …« Sie wollte ihm die Arme um den Hals legen, doch Rouben entzog sich ihr durch einen kleinen Schritt zur Seite.
»Ich finde, wir sollten keinen Wettstreit im Verzeihen, Verstehen und Versprechen beginnen«, erwiderte er. »Ich brauche Zeit für mich, Jol. Ich muss mich ein wenig besinnen. Das heute alles zusammen, das war eindeutig zu viel für einen Neugeborenen wie mich.« Er versuchte ein Grinsen, was ihm jedoch gründlich misslang. »Und deshalb mein Vorschlag: Die Arbeit am Haus tut mir gut, dabei kann ich meine Gedanken und Gefühle ordnen und mich auf die Zukunft mit dir freuen. Ich möchte es so schnell wie möglich fertigbekommen.«
Jolin nickte. »Okay, und was bedeutet das?«, presste sie hervor. Eine leichte Übelkeit überfiel sie, denn sie ahnte bereits, wie seine Antwort ausfallen würde.
»Das bedeutet, dass wir uns nicht mehr so oft sehen.«
Sein Tonfall war unbeteiligt, seine Stimme viel zu kühl.
Jolin schluckte. Wie in Trance schob sie die Hände in die Manteltaschen und krampfte sie langsam zu Fäusten zusammen. »Wie oft nicht?«
»Na ja, die Tage werden länger. Ich werde bis in die Abendstunden hinein im Haus sein.«
»Und danach nicht mehr bei mir vorbeikommen?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Und was ist mit den Wochenenden?«
»Ich weiß noch nicht. Je nachdem, was gerade zu tun ist.« Er sah ihr in die Augen, doch sein Blick galt nicht ihr, er war jetzt auf eine beunruhigende Weise nach innen gerichtet. »Wir werden das jedes Mal gemeinsam entscheiden … Okay?«
Wieder nickte Jolin. »Ich könnte dir helfen«, sagte sie leise.
»Ich glaube nicht, dass du deine Hände schon so belasten solltest«, erwiderte Rouben.
Jolin setzte sich in Bewegung. Sie konnte nicht mehr einfach so dastehen und sich diesen ganzen Unsinn anhören. Ja, in ihren Ohren klang es wie Unsinn, wie etwas, das diametral zu all dem verlief, was sie in den letzten Wochen miteinander erlebt hatten. Es war, als hätte Rouben ihr das Herz eingefroren. Sie begriff durchaus, warum er das tat, aber sie verstand nicht, dass er überhaupt in der Lage war, es zu tun. Sie selbst hätte niemals die Kraft dazu aufgebracht.
»Und wie lange wird es dauern?«, fragte sie, während sie auf den Durchschlupf zusteuerte.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich kann es nicht …«
»… einschätzen?«
»Ja. Ich möchte dich nicht
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