Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
sie nicht, dass er das von ihr glaubte. Er sollte wissen, dass sie sehr geduldig sein und er sich voll und ganz auf sie verlassen konnte.
Entschlossen schlug sie die Decke zurück und tastete mit den Zehen nach ihren Schlappen, die unters Bett gerutscht waren. Ihre Klamotten lagen ebenfalls achtlos über den Boden verteilt, und auf ihrem Schreibtisch herrschte das totale Chaos.
»Jolin Johansson, erinnerst du dich noch? In deinem früheren Leben bist du ein sehr ordentlicher Mensch gewesen«, murmelte sie. »Und es wäre gar nicht so unklug, wenn du dir zumindest ein wenig davon bewahren könntest«, ermahnte sie sich, während sie vom Bett aufstand und mehr oder weniger planlos ein paar Unterlagen zusammensuchte und in ihrer Umhängetasche verstaute. Sie schaffte es nicht einmal, sich zu vergegenwärtigen, ob sie am Abend noch irgendwelche Hausaufgaben gemacht hatte, sie wusste nur noch, dass Paula einige Male an ihre Zimmertür geklopft hatte und sie zum Essen überreden wollte. Irgendwann hatte Jolin dann Gunnars Stimme vernommen, danach hatte ihre Mutter endlich Ruhe gegeben.
Ja, es war wirklich höchste Zeit, dass sie hier rauskam. Jolin brauchte Platz zum Atmen, zum Leben, zum Essen und Sein, und zwar wie und wann sie es wollte. Und deshalb war es gut, dass Rouben seine freie Zeit von jetzt ab hauptsächlich in das Bewohnbarmachen ihres neuen Heims investierte. Je eher das Haus fertig war, desto besser.
Wieder einmal kam sie sich schrecklich kindisch vor, weil sie gestern so ein Drama veranstaltet hatte. Was mochte Rouben bloß von ihr denken! Schließlich hatte er sie nicht verlassen. Er würde sie in den nächsten Wochen weniger umarmen und küssen, okay, das war schmerzlich, aber es würde sie nicht umbringen. Umso schöner würde es sein, wenn sie endlich ganz allein mit ihm wohnte und sich all ihre Sehnsüchte erfüllten … Lächelnd schloss Jolin die Augen. Sie stellte sich vor, wie sie den Reißverschluss seiner Sweatshirtjacke öffnete und ihre Hände über seine weiche olivfarbene Haut streichen ließ. Fast glaubte sie seine Wärme unter ihren Fingerspitzen zu fühlen … Jolin taumelte nach vorn. Sie riss die Augen auf und fing sich in letzter Sekunde am Fensterbrett ab. Grinsend schüttelte sie den Kopf.
»Mademoiselle Johansson, Sie sind wirklich ein Schaf!«
Ihre Hände griffen in die Vorhänge und zogen sie mitsamt der Gardine auf. Jolin drückte ihre Stirn gegen die Scheibe, sah auf die Straße hinunter und ertappte sich dabei, dass sie den roten Alfa suchte.
»Sag ich doch: ein Schaf.« – Und was für eins!
Sie wollte die Gardine gerade wieder zuziehen, da bemerkte sie einen Schatten, der blitzschnell über den Bürgersteig der gegenüberliegenden Seite huschte. Ohne den Boden zu berühren, flog er über die Pflastersteine hinweg und tauchte schließlich in einen dunklen Torweg ab.
Jolin erstarrte. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Wie gebannt starrte sie auf den Torweg, doch der Schatten blieb verschwunden.
»Schaf, Schaf, Schaf!«
Es musste ein Vogel gewesen sein. Vielleicht lag es aber auch ganz einfach daran, dass sie zu wenig geschlafen hatte und ihr Gehirn noch nicht richtig funktionierte.
Jolin legte den Griff um, öffnete das Fenster und tat einen tiefen Atemzug. Der Himmel war noch immer dämmrig, die aufgehende Sonne ließ sich hinter den Häusern allenfalls erahnen, und die Luft, die ihr entgegenschlug, war klirrend kalt. Wie gut, dass sie den Steppmantel noch nicht gegen ihre Cordjacke ausgetauscht hatte. Es würde wohl noch ein wenig dauern, bis der Frühling den Winter endgültig fortgejagt hatte.
»Guten Morgen, mein Schatz«, sagte Gunnar. »Möchtest du auch einen Kaffee? – Ausnahmsweise?«
Jolin blickte sich in der Küche um. »Wo ist denn Ma?« Vor lauter Verwunderung vergaß sie glatt, den Gruß ihres Vaters zu erwidern. Dass sie ihre Mutter nun schon zum wiederholten Mal morgens nicht in der Küche antraf, war wirklich ungewöhnlich.
Gunnar zuckte die Achseln. »Schläft.«
»Was?«
»Ja, du hast ganz richtig gehört.«
Jolin ließ sich auf ihren Stuhl sinken. »Und was machst du hier?«
»Ich fahre ein wenig später. Inzwischen bin ich in diesem Laden wichtig genug, um einen Teil meiner Arbeit hin und wieder anderen überlassen zu können.« Lächelnd deutete er auf Jolins Tasse. »Wie war das jetzt? – Wolltest du Kaffee oder nicht?«
Jolin lächelte zurück. »Ausnahmsweise.«
Gunnar Johansson hatte Milch aufgeschäumt und verteilte sie
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