Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
Die Perversen in der Klinik würden Natalia wahrscheinlich eher für sich behalten und dort auf sie achtgeben wollen. Leonard versuchte diese scheußlichen Gedanken zu verdrängen, doch seine Nase fing an zu laufen und Flüssigkeit rann seine Speiseröhre hinunter. Er räusperte sich leise.
„Dad?“, flüsterte eine sanfte Stimme.
Nun flossen die Tränen in Strömen. Leonard lehnte sich nach links und hoffte, auf diese Weise Körperkontakt mit seiner Reisegefährtin herstellen zu können. „Nat, du bist’s wirklich. Gott sei Dank bist du es.“
Sie wackelte auf ihrem Sitz hin und her und versuchte, zu Leonard rüberzurutschen.
„Ich würde dich umarmen, wenn ich könnte“, sagte er. „Was haben sie mit dir gemacht?“
„Mich in eine Zelle gesperrt“, flüsterte sie. „Mit einem Feldbett und einem Eimer zum Pinkeln.“
„Sie haben dich nicht angefasst?“
„Sie haben noch nicht einmal mit mir geredet.“
Leonard ließ einen Seufzer der Erleichterung heraus.
„Haben sie dir wehgetan?“, fragte sie besorgt.
„Nee“, log er. „Das Gleiche wie bei dir. Ich habe mir nur Sorgen gemacht.“
„Ihr beide haltet besser eure Klappe da hinten“, schnauzte sie Sanders an.
Sie fuhren schweigend weiter.
Schließlich hielt Sanders plötzlich den Wagen an und öffnete Natalias Tür.
Er zog sie beide aus dem Wagen, nahm ihnen die Kapuzen ab und warf sie auf einen Haufen von irgendetwas, das Leonard in dem Schatten nicht ganz erkennen konnte. Dann machte Sanders die Autoscheinwerfer aus und sie befanden sich in völliger Dunkelheit. Leonard versuchte sich an die Mondphasen der letzten paar Tage zu erinnern und vermutete, dass Neumond sein musste. Die Finsternis beunruhigte ihn. Er sah sich um und blinzelte vergebens. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er einen großen Erdwall, der über Sanders Wagen aufragte. Wenn sich Leonard nicht irrte, befanden sie sich in der Nähe der Absperrung am Highway 40 und der Henderson Mine Road.
Sanders nahm beiden nacheinander die Handschellen ab.
„Ich habe nur ein paar Minuten, also hört gut zu und seid still“, sagte der Soldat mit hastiger, aber keineswegs feindseliger Stimme. „Ich soll eine Nacht lang mit euch im Steinbruch bleiben. Ich werde jedoch ohne euch zurückkehren. Habt ihr verstanden?“ Sanders beugte sich nach vorne, nahm die Kapuzen und warf sie in das Auto. Anschließend hob er andere Sachen vom Boden und reichte sie Leonard und Natalia.
Leonard ertastete den Gegenstand und ihm wurde klar, dass er einen der Rucksäcke in seiner Hand hielt. Sein Herz fing an zu rasen und sein Körper wurde plötzlich von einer unglaublichen Wärme durchflutet. Der Mann half ihnen dabei, zu entkommen.
„Danke, Mr. Sanders“, sagte Natalia.
Erschrocken, dass Natalia ihn mit seinem Namen ansprach, stockte Sanders einen Moment. Dann sprach er mit fester Stimme: „Wenn man euch schnappt, würde ich es begrüßen, wenn ihr meinen Namen nicht erwähnen würdet. Ihr scheint recht gut darin zu sein, Geheimnisse für euch zu behalten. Sonst bin ich nämlich geliefert.“ Er seufzte. „Ich bin wahrscheinlich eh schon ein toter Mann.“
Leonard starrte ihren unvermuteten Verbündeten an und wünschte, er könnte den Gesichtsausdruck des Mannes erkennen. Was für Beweggründe könnte jemand nur haben, um sein eigenes Leben für das zweier Fremder zu riskieren? Es ergab keinen Sinn. Er streckte den Arm aus und fasste nach dem Soldaten. „Warum?“, flüsterte er.
Sanders nahm sich Zeit, um seine Antwort zu formulieren. „Gerüchten zufolge ist diese junge Dame Ihre Tochter.“
„Das stimmt“, gab Leonard zu, obwohl ihm ein Bruchteil einer Sekunde später bewusst wurde, dass es eine Falle sein könnte.
„Meine Tochter ist fast fünfzehn. Ich habe sie seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Sie hat sich unter Vormundschaft des Staates stellen lassen und ist in eine KASEDU–Wohnsiedlung gezogen.“ Er atmete unruhig ein. „Ich hatte mich für diesen Job beworben, weil ich meiner Frau nicht länger in die Augen sehen konnte. Ich konnte es nicht mehr ertragen, in diesem Haus zu wohnen. Was ich in diesen Bergen schon miterleben musste, ist unglaublich, aber es ist bei Weitem besser, als in diesem leeren Loch leben zu müssen, das einmal mein Zuhause war.“ Mit den letzten Worten ging seine Stimme eine Tonlage hoch und er verstummte.
Leonard wusste nicht, was er sagen sollte. Er legte seinen Arm um Natalia.
Sanders betrachtete die
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