Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
Betonboden und weißgraue Wände, übersät mit schmuddeligen Spritzflecken, sorgten für eine dermaßen trostlose Atmosphäre, wie sie sich Leonard nicht schlimmer hätte vorstellen können. Er schätzte die Größe des Raumes ab und atmete scharf ein.
Neun Quadratmeter. Genau wie das Zimmer, in dem er sein anderes Leben vergeudet hatte. Wie passend.
Aus heiterem Himmel bekam Leonard einen Lachanfall und ein verstörendes Kichern hallte in der leeren Zelle wider.
Im selben Moment kam ein Mann großer Statur, mit kurz geschnittenem Haar und einem amüsierten Gesichtsausdruck in den Raum hinein; bei sich hatte er ein Klemmbrett und ein Buch. Ein schüchterner, junger Mann folgte ihm und schob einen Bürostuhl aus Leder vor sich her.
„Was ist so witzig, Cook?“, brüllte der große Mann. „Begeistert von unserer reizenden Einrichtung hier?“
Leonards Lachen verstummte augenblicklich.
„Ziemlich geräumig im Vergleich zu dem, wo du bald hinkommst.“ Der große Mann setzte sich in den Lederstuhl, während der junge Mann stehen blieb.
Leonards Blick und der des Assistenten des kräftigen Mannes trafen sich. Da er damit rechnete, dass der Jugendliche jederzeit auf ihn zukommen und seinen Anus untersuchen würde, wandte er seinen Kopf ab und versuchte, seinen Brechreiz zu unterdrücken.
„Mach dich frei, Cook“, forderte der große Mann.
Leonard schloss seine Augen, weigerte sich jedoch, seine Hände wegzunehmen.
„Ich sagte, mach dich frei!“
Überrascht von der Tiefe seiner Beschämung, schüttelte Leonard den Kopf und weigerte sich, seinen Geiselnehmern in die Augen zu sehen. Er hörte, wie der Lederstuhl gewaltsam in die Wand krachte und nur einen Bruchteil einer Sekunde später spürte er, wie ein betäubender Schlag seitlich sein Gesicht traf. Gegen die Schmerzen zog er seinen Körper zusammen, aber er bewegte seine Hände immer noch nicht weg.
„Verdammt, Mahler, leg ihm Handschellen an. Mach sie am Stuhl fest.“
„Jawohl, Sir, Leutnant Stearns.“
Der nervöse, junge Mann nahm den Holzstuhl und stellte ihn in die Mitte des Raumes. Er zog die Handschellen durch die Streben an der Lehne, riss Leonards Hände von seinen Genitalien weg und fesselte ihn an den Stuhl. Leonard erlag seiner Scham. Er dachte nicht mehr an Natalia, sondern war völlig mit seiner eigenen, erbärmlich misslichen Lage beschäftigt. Kopfschmerzen fluteten langsam seine Sinne und er wünschte sich, er könnte seine Schläfen reiben.
„Du kannst jetzt wieder gehen, Mahler.“
„Jawohl, Sir.“ Mit diesen Worten verließ der junge Mann den Raum.
Eine Dreiviertelstunde verging, ohne dass etwas gesagt wurde. Stearns las sein Buch und sah ab und zu auf, um Leonard anzustarren und gelegentlich spöttisch zu grinsen oder ein leises Lachen von sich zu geben. Leonard rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her, während seine Genitalien auf dem bloßen Holz unangenehm kalt wurden. Schließlich verließ ihn alles Gefühl. Sein körperliches Unbehagen schwand dahin, als er sich von allen Emotionen befreite und seinen Kopf freimachte. Offensichtlich würde es keine Leibesvisitation geben. Der ganze Spaß war lediglich eine Übung gewesen, mit dem Zweck, ihn zu demütigen, und Leonard hatte ihnen alles gegeben, was sie sich nur wünschen konnten.
Stearns stand auf und begann, um Leonards Stuhl im Kreis zu laufen. „Du bist ein schlauer Mann, Cook. Kann ich dich Cook nennen?“
Leonard behielt einen leeren Gesichtsausdruck bei.
„Denn wir wissen ja beide, dass dein Name nicht Cook ist.“
Keine Antwort.
Stearns grinste. „Das sind wirklich schwache Argumente, die du da vorbringst, Doktor .“
Leonard erwiderte seinen Blick.
„Doktor“, stieß Stearns verächtlich aus. „Arrogant. Selbstsüchtig. Geldraffer. Sie schauen auf den Rest von uns herab, als ob sie eine Hochschulbildung zu etwas Besserem machen würde.“ Er lachte und fuhr fort: „Meine Cousine war Hilfsköchin, bevor ihre feigen Verräter–Arbeitgeber aus unserer Gemeinschaft geflohen sind. Jetzt, dank des Ministeriums für Angemessene Entschädigung und Neuverteilung, arbeitet sie im OP–Trakt des Century Hospitals. Ihr geht’s richtig gut. So wie’s aussieht, braucht man wohl doch keinen Uni–Abschluss, um in der Medizin zu arbeiten.“ Lässig und mit großen Schritten ging er zurück zu seinem Stuhl und setzte sich wieder. „Ich halte es mal mit im Zweifel für den Angeklagten , Cook, und gehe davon aus, dass du in Wirklichkeit gar kein Doktor
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