Neuromancer-Trilogie
dem gleichen verwaschenen Licht, dem silbrigen Licht, die anderen Hochhausblocks als gesichtslose Fassaden vor dem bleichen Regenhimmel jenseits des Fensterrechtecks, eingerollt wie ein Kind auf dem scheußlichen orangenen Teppich, die Wirbelsäule ein Fragezeichen
unter dem straffen Rücken seiner flaschengrünen Veloursjacke, die linke Hand über dem Ohr gespreizt, die Finger weiß mit leicht bläulich verfärbten Nagelbetten.
Sie kniete sich hin und legte ihm die Hand an den Hals. Wusste es. Draußen am Fenster der rinnende Regen, all der viele Regen, immerfort. Sie nahm seinen Kopf auf den Schoß, hielt ihn, wiegte ihn, schwankte; dumpfer, trauriger, animalischer Schmerz erfüllte den kahlen, rechteckigen Raum. Und nach einer Weile spürte sie das spitze Ding unter ihrer Hand, die glatte, rostfreie Spitze eines sehr feinen, sehr harten Drahts, der aus seinem Ohr und durch die gespreizten, kalten Finger ragte.
Hässlich, hässlich, so starb man nicht. Das brachte sie auf die Beine, Zorn, ihre Hände wie Klauen. Sie sah sich in dem stillen Zimmer um, in dem er gestorben war. Es hatte nichts von ihm, gar nichts; nur der lädierte Aktenkoffer stand da. Sie öffnete ihn und fand zwei Notizbücher mit Spiralbindung und unbeschriebenen Blättern, einen ungelesenen, gerade sehr angesagten Roman, eine Streichholzschachtel und ein halb leeres blaues Päckchen Gauloises. Der ledergebundene Terminkalender von Browns fehlte. Sie tastete seine Jacke ab, griff in seine Taschen, aber er war nicht da.
Nein, dachte sie, da hättest du’s bestimmt nicht reingeschrieben, nicht wahr? Aber Nummern und Adressen hast du dir nie merken können, stimmt’s? Sie sah sich erneut in dem Zimmer um; dabei überkam sie eine seltsame Ruhe. Du hast dir alles notieren müssen, aber du bist ein großer Geheimnistuer gewesen und hast meinem Büchlein von Browns nicht getraut, nein. Wenn du in einem Café ein Mädchen kennengelernt hast, dann hast du dir ihre Nummer auf einer Streichholzschachtel oder irgendeinem Fetzen notiert und dann vergessen, so dass ich Wochen später darauf gestoßen bin, wenn ich bei dir aufgeräumt habe.
Sie ging in das winzige Schlafzimmer. Sie sah einen knallroten Klappstuhl und eine Matte aus billigem gelbem Schaumstoff, die als Bett diente. Den Schaumstoff zierte ein brauner Schmetterling: Menstruationsblut. Sie hob die Matte hoch, aber darunter war nichts.
»Du hast bestimmt Angst gehabt«, sagte sie, und ein Zorn, den sie gar nicht zu verstehen versuchte, ließ ihre Stimme zittern. Ihre Hände waren kalt, kälter als Alains Hände, als sie die rote Tapete mit den goldenen Streifen nach einer losen Kante, einem Versteck abtastete. »Du armer, dummer Scheißkerl. Armer, dummer, toter Scheißkerl …«
Nichts. Zurück ins Wohnzimmer, irgendwie erstaunt, dass er sich nicht gerührt hatte, in der Erwartung, dass er gleich aufspringen, hallo rufen und mit dem ein paar Zentimeter langen Trickdraht winken würde. Sie zog ihm die Schuhe aus. Sie brauchten neue Sohlen, neue Absätze. Sie schaute hinein, tastete die Innensohle ab. Nichts. »Tu mir das nicht an.« Und wieder ins Schlafzimmer. Der schmale Wandschrank. Sie schob eine Reihe klappernder, billiger weißer Plastikkleiderbügel zur Seite und eine schlaffe Folienhülle aus der chemischen Reinigung. Zog sich die fleckige Matratze her und stieg drauf, versank mit den Absätzen im Schaumstoff, während sie mit den Händen über ein kleines Pressspanbord fuhr, und fand in der hinteren Ecke einen mehrmals gefalteten Zettel, rechteckig und blau. Sie faltete ihn auseinander, sah, dass ihre so sorgfältig lackierten Nägel abgebrochen waren, und entdeckte die Nummer, die er dort mit grünem Filzstift notiert hatte. Ein leeres Päckchen Gauloises.
Es klopfte an der Tür.
Und dann Pacos Stimme: »Marly? Hallo? Was ist passiert?«
Sie steckte sich die Nummer in den Bund ihrer Jeans und drehte sich zu ihm um, begegnete seinem ruhigen, ernsten Blick.
»Es ist Alain«, sagte sie. »Er ist tot.«
19
Hypermarkt
Vor einem großen alten Kaufhaus an der Madison Avenue sah er Lucas zum letzten Mal. So behielt er ihn danach in Erinnerung: ein großer Schwarzer in einem tollen schwarzen Anzug, gerade im Begriff, in seinen langen schwarzen Wagen einzusteigen, mit einem schwarzglänzenden Schuh schon auf Ahmeds dickem, weichem Teppich, mit dem anderen noch auf dem bröckligen Beton des Bürgersteigs.
Jackie stand neben Bobby, das Gesicht im Schatten der breiten Krempe ihres
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