Neuromancer-Trilogie
siehst aus, als hättest du gerade irgendwas verschluckt.« Andrea streifte das Zellophan von ihren zwanzig Silk Cut.
»Nein«, sagte Marly und schüttelte sich. »Aber wenn ich so darüber nachdenke, hätte ich’s beinahe getan …«
Und auf dem Heimweg wurden trotz Andrea – trotz ihrer Wärme – die Schaufenster, jedes einzelne, zu Kästen, zu Konstruktionen, wie die Werke Joseph Cornells oder des mysteriösen Kastenmachers, den Virek suchte, und die Bücher und Pelze und italienischen Kleider darin formierten sich zu geometrischen Strukturen namenloser Sehnsucht.
Und wieder erwachte sie, das Gesicht in Andreas Couch vergraben, die rote Steppdecke um die Schultern geknüllt, Kaffeeduft in der Nase, während Andrea im Zimmer nebenan einen japanischen Popsong vor sich hinsummte. Sie zog sich an. Es war ein grauer, verregneter Morgen in Paris.
»Nein«, sagte sie zu Paco. »Ich gehe allein hin. Ist mir lieber so.«
»Das ist eine Menge Geld.« Er blickte auf die italienische Tasche auf dem Café-Tisch zwischen ihnen. »Das ist gefährlich, verstehst du?«
»Weiß ja keiner, dass ich’s bei mir trage. Nur Alain. Alain und deine Freunde. Und ich hab nicht gesagt, dass mich niemand begleiten soll, sondern nur, dass ich niemanden bei mir haben möchte.«
»Hast du was?« Ernste, tiefe Falten legten sich um seine Mundwinkel. »Bist du verärgert?«
»Ich möchte nur allein gelassen werden. Du und die anderen, wer immer sie sein mögen, ihr könnt mir gern folgen und mich im Auge behalten. Falls ihr mich verliert, was ich für unwahrscheinlich halte, habt ihr ja wohl die Adresse.«
»Stimmt«, sagte er. »Aber dass du ein paar Millionen Neue Yen allein durch Paris schleppst …« Er zuckte mit den Achseln.
»Was wäre denn, wenn ich das Geld verliere? Würde Señor den Verlust überhaupt registrieren? Oder würde gleich die nächste Tasche mit vier Millionen bereitstehen?« Sie griff nach dem Schultergurt und stand auf.
»Natürlich würde eine neue Tasche bereitstehen, obwohl es für uns gar nicht so einfach ist, eine solche Summe in bar aufzutreiben. Und nein, Señor würde den Verlust nicht in dem Sinn ›registrieren‹, wie du das meinst, aber ich würde auch schon für den sinnlosen Verlust eines kleineren Betrags bestraft werden. Die Steinreichen haben alle die Eigenart, sehr genau auf ihr Geld achtzugeben, wie du noch feststellen wirst.«
»Trotzdem gehe ich allein. Nicht ohne Begleitung, aber allein mit meinen Gedanken.«
»Deiner Intuition.«
»Ja.«
Falls sie ihr folgten, wovon sie überzeugt war, so blieben sie unsichtbar wie immer. Alain dagegen würden sie sehr wahrscheinlich unbeobachtet lassen. Sicher stand die Adresse, die er ihr heute Morgen angegeben hatte, längst im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit, ob er nun dort war oder nicht.
Sie verspürte heute eine neue Kraft. Sie hatte sich Paco gegenüber durchgesetzt – nicht zuletzt aufgrund ihres plötzlichen Verdachts vom Vorabend, dass Paco mit seiner guten Laune, seiner Männlichkeit, seiner liebenswerten Ignoranz gegenüber der Kunst zum Teil vielleicht eigens ihretwegen dabei war. Ihr fiel wieder ein, dass Virek gesagt hatte, sie wüssten mehr über ihr Leben als sie selbst. Gab es noch eine einfachere Möglichkeit, die letzten Leerstellen im Bild der Marly Kruschkowa auszufüllen? Paco Estevez. Der perfekte Fremde. Zu perfekt. Sie lächelte ihr Ebenbild in einer blau verspiegelten Wand an, während die Rolltreppe sie zur Métro hinuntertrug; ihr gefiel der Schnitt ihrer dunklen Haare und das modisch nüchterne Titangestell der schwarzen Porsche-Brille, die sie sich am Vormittag gekauft hatte. Tolle Lippen, dachte sie, wirklich nicht schlecht. Ein schmächtiger Junge mit weißem Hemd und dunkler Lederjacke und einer riesigen schwarzen
Mappe unterm Arm lächelte ihr von der aufwärts führenden Rolltreppe aus zu.
Ich bin in Paris, dachte sie. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit schien ihr das allein Grund genug zu lächeln. Und heute gebe ich diesem widerlichen Idioten von Exlover vier Millionen Neue Yen und kriege dafür was von ihm. Einen Namen oder eine Adresse, vielleicht auch eine Telefonnummer. Sie kaufte einen Fahrschein für die erste Klasse; das Abteil würde nicht so voll sein, und sie konnte sich die Zeit damit vertreiben zu raten, welche der anderen Fahrgäste zu Virek gehörten.
Die Adresse, die Alain ihr genannt hatte, war einer von zwanzig Betontürmen, die sich in einem düsteren Vorort im Norden
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