Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
Vom Netzwerk:
reichen Kinds, dachte er. So was Urtümliches ist teuer. Atomosphäre 201
    nennt man das.
    Molly passierte ein weiteres Dutzend von Hologrammen, bis sie den
    Eingang zu 3Janes Wohnung erreichte. Eins davon stellte das augenlose
    Ungetüm aus der Gasse hinter dem Gewürzbasar dar, wie es aus dem verstümmelten Körper von Riviera hervorbrach. Einige andere waren Folterszenen: der Inquisitor stets ein Armeeoffizier, das Opfer immer eine junge Dame. Diese Szenen hatten die grausige Intensität der Riviera-Show im Vingtième Siècle, als wären sie in orgastischem Blaublitz erstarrt. Molly sah weg, als sie daran vorbeiging.
    Das letzte war klein und unklar, als hätte Riviera es über die verschwiegene Distanz von Zeit und Erinnerung herbeigezerrt. Sie mußte sich hin—knien, um es zu betrachten; es war aus der Perspektive eines kleinen
    Kinds dargestellt. Keins der anderen Hologramme hatte einen Hintergrund gehabt; die Figuren, Uniformen, Folterwerkzeuge hatten frei im Raum gestanden. Dieses hingegen war eine Szenerie.
    Ein dunkler Schuttberg erhob sich zum farblosen Himmel; hinter dem
    Wall ragten bleiche, halb zerschmolzene Turrnskelette auf. Der Schuttberg war strukturiert wie ein Netz; rostige Drahtseile, wie feine Schnüre schwungvoll gebogen, mit riesigen Betonbrocken behaftet. Der Vorder—grund glich einem ehemaligen Stadtplatz; da war ein Fundament, das an
    einen Brunnen erinnerte. Am Fuße davon die Kinder und der Soldat, erstarrt. Das Tableau war zunächst verwirrend. Molly hatte es wohl richtig gedeutet, bevor Case es erfaßte, denn er spürte, wie sie sich verkrampfte.
    Sie spuckte und richtete sich wieder auf.
    Kinder. Verwahrlost, in Lumpen. Wie Messer klappernde Zähne. Wunden in den verzerrten Gesichtern. Der Soldat auf dem Rücken, der zum Himmel gekehrte Mund und Hals offen. Sie fraßen.
    »Bonn«, sagte sie mit einer gewissermaßen sanften Stimme. »Ganz das
    Produkt davon, nicht wahr, Peter? Aber das mußtest du sein. Unsre 3Jane,
    die ist schon zu übersättigt, um irgend'nem kleinen Dieb die Hintertür auf-zumachen. Deshalb hat Wintermute dich aufgestöbert. Das Höchste an Geschmack, falls dein Geschmack in diese Richtung geht. Bizarr in der Lie-be, Peter.« Sie schauderte. »Aber du hast sie überredet, mich reinzulassen.
    Danke. Gleich feiern wir 'ne Party zusammen.«
    Und dann ging sie - ja, rauschte sie trotz der Schmerzen - davon und
    ließ Rivieras Kindheit hinter sich. Sie zog die Flechette aus dem Halfter, 202
    klappte das Plastikmagazin heraus und legte ein anderes ein. Sie hakte
    den Daumen in den Hals des Modern-Anzugs, und riß ihn mit einem Ruck
    bis zum Schritt auf, wobei die Klinge am Daumen das zähe Polykarbonat
    wie spröde Seide durchtrennte. Sie befreite sich von den Ärmeln und Beinen; die Fetzen wurden unsichtbar, als sie auf den dunklen falschen Sand fielen.
    Erst jetzt bemerkte Case die Musik. Eine Musik, die ihm völlig fremd
    war. Hörner und Piano.
    Der Eingang zur Welt von 3Jane hatte keine Tür. Es war ein zerklüftetes
    5-Meter-Loch in der Tunnelwand.
    Unregelmäßige Stufen führten in einer flachen, leichten Kurve nach unten. Blauer Lichtschimmer, tanzende Schatten, Musik.
    »Case«, sagte sie und blieb stehen, wobei sie die Flechette in die Rechte nahm. Sie hob die Linke, lächelte und berührte den Handballen mit der feuchten Zungenspitze, küßte ihn über die Simstim-Verbindung. »Muß
    gehn.«
    Dann lag etwas Kleines, Schweres in ihrer linken Hand; den Daumen am
    winzigen Zapfen, ging sie hinunter.
18
    Es ging um ein Haar daneben. Es klappte fast, aber nicht ganz. Sie ging
    es richtig an, dachte Case. Mit der richtigen Einstellung; es war etwas, das er fühlen konnte, das er hätte sehen können in der Haltung eines anderen Cowboys, der sich übers Deck beugte und die Finger über die Tasten flit—zen ließe. Sie hatte den richtigen Dreh, die richtige Gangart. Und sie hatte alle Register gezogen für ihren Auftritt. Alle Register gezogen gegen den Schmerz im Bein. Sie spazierte über 3Janes Treppe, als würde der Laden ihr gehören. Den Ellbogen des Schießarms in die Hüfte gestemmt, Unterarm nach oben, Handgelenk locker, schwenkte sie den Lauf ihrer Flechette mit der verhaltenen Lässigkeit eines Regance-Duellanten.
    Es war eine Vorstellung. Es war gleichsam der Höhepunkt aus dem le—
    benslänglichen Konsum kriegerischer Videos, der billigen, mit denen auch
    Case großgeworden war. Für einige Momente war sie, wie er wußte, jeder
203
    bedrängte Held:

Weitere Kostenlose Bücher