Neva
Ereignisse von gestern durchströmen mich allmählich wieder. Sanna und ich hatten uns wie Superheldinnen gefühlt, doch dieses Hochgefühl dauerte nicht lange an. Irgendwann entdeckten wir die Putzkolonnen, die unsere Botschaften mit Dampfdruckreinigern und Drahtbürsten vernichteten. Okay. Aber dennoch: Einen kleinen Sieg haben wir immerhin errungen – und das ist mehr, als die meisten Menschen je erreichen.
»Nun, es spielt keine Rolle. Du hast nicht viel Zeit«, sagt Mom, während sie mir ein Paar Jeans hinhält. »Dein Vater hat angerufen. Die Polizei ist auf dem Weg.«
»Die Polizei.« Mit einem Mal schwindet auch der Rest der gestrigen Euphorie. Ich blicke mich hastig in meinem Zimmer um. Gibt es hier etwas Verräterisches? Eine Ecke meines Tagebuchs schaut unter meinem Kissen hervor. Ich muss darauf eingeschlafen sein. Mit einer Hand fange ich den BH , den meine Mutter mir zuwirft, und schiebe das rosa Buch tiefer unters Kissen.
»Was will die Polizei denn?« Ich trete die Decke weg, streife mein T-Shirt ab und ziehe den BH an.
»Es hat etwas mit Graffiti zu tun«, antwortet sie, und ich erstarre. Ich hatte gedacht, die ganze Sache sei abgehakt und überstanden. »Erzähl eine möglichst einfache Geschichte«, fährt sie fort, ohne zu erkennen, dass ich vor Angst wie gelähmt bin.
Wieso verdächtigen sie mich? Der Polizist, dem Nicoline und ich begegnet sind, kann mich nicht identifizieren, da ich kein sichtbares Kenn-Zeichen habe. An meinem Aussehen ist nichts Auffälliges. Hat mich jemand verraten? Das muss es sein. Mir wird flau im Bauch.
Jetzt bemerkt meine Mutter, dass ich mich nicht bewege. »Neva, mach schon.«
»Ja, okay. Okay.« Ich nicke, aber ich kann mich nicht rühren.
Mom drückt mich kurz an sich. »Mach dir keine Sorgen. Sie können ja nicht … Sie werden nicht …« Ihre Stimme verebbt. »Beruhig dich.« Meint sie mich oder sich selbst? »Und antworte nur auf Fragen, die sie dir wirklich stellen.«
Seit wann gibt meine Mutter mir Tipps, wie man Verbrechen vertuscht? Angestrengt bemühe ich mich, den mentalen Schnelldurchlauf aller möglichen Schreckensszenarien zu stoppen und mich einfach anzuziehen. Ich schlüpfe in das graue Hemd und die ausgeblichene blaue Jacke, die meine Mutter für mich ausgesucht hat. Hüpfend versuche ich, mich in die enge Hose zu quetschen.
Sie hält mich fest, damit ich nicht umfalle. »Du warst nicht da – wo auch immer.«
Ich will etwas sagen, aber sie stellt sich vor mich und packt mich an den Oberarmen. Sie hat das Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengefasst. Einige lose Strähnen fallen ihr unordentlich ins Gesicht. Sie trägt ein altes Hemd von meinem Vater, hat es aber falsch geknöpft, so dass ihr Körper irgendwie schief wirkt. »Du hast nichts getan.«
Ich nicke und stecke meinen Schneeflockenanhänger unter mein Hemd. Anschließend berühre ich ihn noch einmal durch den Stoff hindurch und bitte Großmutter um Kraft. Die werde ich brauchen.
»Alles wird gut. Reg dich nicht auf.« Sie spricht wieder mehr zu sich selbst. Nun tritt sie an mein Bett und zieht das Buch hervor. »Das verstecke ich besser.«
»Mom …« Ich strecke die Hand danach aus.
»Ich lese es nicht, keine Angst. Jeder braucht seine Geheimnisse.« Sie klemmt sich das Tagebuch unter den Arm. »Beeil dich. Ich versuche, dir etwas mehr Zeit zu verschaffen.« Und damit geht sie und zieht die Tür hinter sich zu.
Langsam drehe ich mich um die eigene Achse und vergewissere mich, dass ich nichts übersehen habe, das Verdacht erregt. Mein Zimmer sieht aus wie eine Wiederverwertungshalde: Überall liegen Klamotten herum. Auf dem Nachttisch mehrere angefangene Bücher. Auf der Kommode Schmuck. Ich fange an aufzuräumen, fürchte aber dann, dass es unnatürlich wirken könnte. Ich werfe einen Blick in den Spiegel. Schweiß glitzert auf meiner Oberlippe. Meine Augen sind blutunterlaufen. Sogar das hastig in die Hose gestopfte Hemd und die steif von den Schultern herabhängende Jacke verleihen mir ein verdächtiges Aussehen. Ich lasse mich aufs Bett fallen und warte auf die Polizei.
»Würdest du uns fürs Protokoll deinen Namen nennen?« Der Polizist schaut von der Akte auf, die vor ihm liegt. Etwas an ihm erinnert mich an Ethan. Das Haar hat dieselbe Länge. Auch er hat dunkle Ringe unter den Augen. Die schwarze Uniform verdeckt alle anderen unveränderlichen Merkmale, nur sein Gesicht ist bloß. Ich bin so sehr mit seinem Äußeren beschäftigt, dass er die Frage
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