Neva
haben.«
Ich überfliege die Schlagzeile:
Vandalen flehen in nächtlicher Aktion um Hilfe.
Ungläubig greife ich nach dem Papier und lese die Story. Darin steht, dass diese Vandalen in der ganzen Stadt mit roter Farbe mehr als einhundert Mal »Öffnet die Protektosphäre nicht« an Mauern, Wände und auf Straßen geschmiert haben. Der Reporter zitiert die Polizei: Man nimmt an, es sei ein verzweifelter Hilferuf an die Obrigkeit, der die Angst der Bevölkerung vor den Gefahren außerhalb der Protektosphäre widerspiegele. Eine rechtsextreme Gruppierung, die sich für die Protektosphäre ausspreche, habe sich inzwischen zu dem Akt bekannt.
»Oh, mein Gott.« Ich lasse mich auf meinen Platz zurücksinken. Die Obrigkeit hat unseren Protest in einen regierungsfreundlichen Slogan verwandelt. All die Arbeit, die wochenlange Planung, die Angst und die Aufregung der vergangenen Nacht – umsonst.
»Neva, was ist denn los?« Er streckt die Hand nach mir aus, doch ich weiche ihm aus. Als ich aufspringe und dabei den Stuhl umstoße, richten sich alle Augen auf mich.
»Ich muss gehen.« Dann zerknülle ich den Ausdruck in meiner Faust und renne hinaus.
»Wie konnte das passieren?«, frage ich, als Sanna die Tür aufmacht. Ich drücke ihr den Zeitungsartikel vor die Brust, und sie nimmt den Zettel und liest ihn durch.
»Keine Ahnung.« Sie tritt nach draußen und zieht die Tür hinter sich zu. Wir setzen uns auf die Eingangsstufen. »Was für ein kolossaler Mist!«
»Aber wie konnten sie bloß so schnell …? Ich versteh das einfach nicht!« Ich schüttele den Kopf, als wollte ich in diesem Gedanken-Puzzle so die einzelnen Teile an die richtige Stelle befördern.
»All die Mühe – für nix.«
»Weniger als nix. Wir haben ihnen noch etwas Gutes getan.« Immer wieder stelle ich mir vor, wie jemand unsere harte Arbeit mit einem einzigen kleinen Zusatz zerstört und dadurch unseren Aufruf zu Rebellion und Freiheit in einen Schrei nach stärkerer Kontrolle verwandelt. An so etwas hätten wir denken müssen.
Sanna und ich sitzen nebeneinander auf der Treppe und blicken auf die mit Brettern vernagelten Häuser auf der anderen Straßenseite. Ich erinnere mich noch daran, dass dort drüben Familien wohnten. Jetzt hat jemand die Läden der unteren Fenster geklaut, und die Häuser wirken wie ausgehöhlt.
Wir schweigen beide. Keine Ahnung, was wir nach gestern Nacht erwartet hatten.
Plötzlich springt Sanna auf die Füße. »Was wir dabei aber vergessen …« Während sie spricht, geht sie aufgeregt auf und ab; ich kann praktisch sehen, wie es in ihrem Hirn arbeitet. »Oh, Gott, Neva, eigentlich ist das ganz großartig. Denn was wir dabei vergessen …«
Ich beuge mich vor. Ihre Aufregung ist ansteckend. »Was denn? Sag doch!«
»Jemand hat unsere Botschaft gelesen. Deshalb
mussten
sie so blitzartig darauf reagieren. Stell dir vor, wie die ganze Nacht die Telefonleitungen heißgelaufen sein müssen. Sie haben unsere Botschaft als gefährlich genug eingestuft, um sofort etwas dagegen zu unternehmen. Begreifst du das denn nicht?«
Und was mich gerade noch niedergeschmettert hat, baut mich mit einem Mal auf. Sanna zieht mich auf die Füße. »Komm, das müssen wir uns selbst ansehen.«
Wir nehmen die Bahn und steigen in der abgestandenen Luft der Stadt aus. Ich weiß, wohin ich will. Ich führe Sanna zum Flussufer. Wir gehen dieselbe Route ab, die Nicoline und ich gestern Abend genommen haben.
Ich traue mich fast nicht, hinzusehen, aber dann packe ich Sannas Arm. »Schau mal, da. Auf der Bank.« Wir gehen langsamer, bleiben allerdings nicht stehen. Wieder und wieder stoßen wir einander an. Wir versuchen, nicht zu grinsen, aber wir strengen uns so an, unsere Euphorie zu verbergen, dass sich unsere Gesichter wie vor Schmerz verzerren. »Öffnet die Protektosphäre«, die roten Wörter, die ich geschrieben habe, stehen noch immer da – jemand hat in einer anderen Farbe das Wort »nicht« dahintergesetzt. Auf dem Bürgersteig liegen jedoch überall Flyer mit unserem Spruch. Jemand hat ihn ins Holz der Bank und in den Stein einer Statue gekratzt. Unser Slogan hat sich verbreitet. Wenn wir Flügel hätten, würden wir jetzt abheben.
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6 . Kapitel
W as hast du getan?«, fragt meine Mutter, als sie in mein Zimmer stürmt. Ich brauche einen Moment, um wach zu werden, aber wirklich nur einen. Mom hat die Augen weit aufgerissen, ihr Gesicht ist gerötet.
»Was?« Ich setze mich auf. Es ist bereits Morgen. Die
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