Neva
gehört, dass gut der Hälfte aller Schulabgänger Anstellungen im Gesundheitswesen zugeteilt worden sind. Vielleicht hat es also gar nichts mit den Bewerbungsunterlagen zu tun, die ich eingereicht habe. »Du hattest doch Pläne. Du wolltest ein großer Künstler werden.«
»Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?« Er sinkt auf seinem Stuhl zusammen.
»Werde wütend. Unternimm was.« So laut habe ich gar nicht sprechen wollen. Einen Moment lang steht die Zeit scheinbar still, und alle Köpfe wenden sich mir zu. Ethan zieht die Brauen zusammen und deutet ein Kopfschütteln an. Meine Nasenflügel blähen sich. Dennoch verziehe ich meine Lippen zu einem Lächeln, um den Leuten zu zeigen, dass alles in Ordnung ist.
Bloß nicht auffallen. Keine Szene machen. Tu nichts, was deinen Vater in Verlegenheit bringt.
Mit diesen Sprüchen bin ich aufgewachsen.
»So eine Chance wie bei der Nationalen Gesellschaft für Neugestaltung kommt so schnell nicht wieder. Der Job ist gut. Ich fange morgen dort an, und mehr will ich jetzt darüber nicht hören.« Er sammelt seine Bilder ein und schiebt sie in den Block. Mit gesenkter Stimme fügt er hinzu: »Das Protestieren überlasse ich dir und Sanna.«
Erst jetzt erkenne ich, dass er gekränkt ist. Er hat geglaubt, dass ich mit ihm über alles reden würde. Aber er wusste nichts von Sannas und meinen Plänen. »Ich wollte es dir erzählen, Ethan«, flüstere ich. »Es tut mir leid.« Ich höre ein Schniefen und schaue zu Ethans Augenmodell hinüber. Tränen rinnen der Frau über die Wangen. »Ich hätte es dir sagen sollen, aber mir war klar, dass es dir nicht gefallen würde.« Ich sehe Ethan an, dann wieder die Frau. »Ich wollte nicht, dass du dich unter Druck gesetzt fühlst. Du sollst nur tun, was du wirklich willst. Und bei dieser Sache wusste ich, dass du …«
Abwehrend hebt er die Hand, um meine Verteidigungsrede zu stoppen. »Ich kann an solchen Aktionen nicht teilnehmen. Du hast es mir verschwiegen, weil du Angst hattest, dass ich es dir ausreden würde.« Und nun ist die Kluft zwischen uns noch größer geworden. Wie soll er auch gegen die Protektosphäre rebellieren, wenn bisher alle Generationen der Harrisons dazu beigetragen haben, sie zu bauen und zu warten? Ethans Vater und seine ältere Schwester sind Ingenieure. Sein Onkel arbeitet in der Fabrik, die die Platten für die Protektosphäre herstellt. Seine Mutter ist Wetterkontrolleurin – sie hält das Filtersystem instand und überwacht das Wetterprogramm.
»Aber … Ethan, ich glaube, wir können …«
»Hör auf, Neva.« Er blickt sich um. »Ich will gar nichts darüber wissen. Ich wünschte, du und Sanna, ihr würdet diesen Quatsch endlich lassen.«
Die weinende Frau wischt sich mit einem Spitzentaschentuch über die Wangen und erhebt sich. Sie drückt das Kreuz durch, und jetzt sehe ich ihren großen runden Babybauch. Ethan berührt mein Kinn und dreht mein Gesicht zu sich. »Verstehst du nicht, wie gefährlich das ist?«, raunt er mir zu. »Wenn die Regierung etwas davon erfährt … Mein Gott, Neva. Was passiert dann mit deinem Vater? Denk doch mal nach.«
»Und wie kannst du in aller Seelenruhe einfach zusehen, wie man uns die Zukunft nimmt?« Ich versuche, leise und ruhig zu sprechen, aber der Druck in mir wächst immer mehr.
»Nicht die Zukunft, die ich mir wünsche.« Er ergreift meine Hand, und ich lasse es geschehen. »Ich will, dass wir heiraten und eine Familie gründen.«
»Sei nicht albern«, erwidere ich, aber ich bemerke an seiner Miene, dass er es ernst meint. »Wir haben gerade erst unseren Abschluss gemacht.« Ich will meine Hand wegziehen, doch er hält sie fest.
»Lass uns keine Zeit mehr verschwenden.« Er küsst die Stelle hinter meinem Ohr. Womit er mich, wie er sehr genau weiß, zum Dahinschmelzen bringen kann. »Courtney und Kieron. Sara und Neil. Jasmine und David. Alle heiraten. Sara ist sogar schon schwanger.«
Ich versuche, mich auf seine Worte zu konzentrieren, und nicht auf das, was er tut. »Und was ist mit unserem Schwur? Wir alle haben es uns gegenseitig hoch und heilig versprochen. Jetzt dürfen wir einfach nicht der Regierung nachgeben. Besonders nicht, nachdem …« Ich breche ab, denn er hört sowieso nicht zu. Er legt die Arme um mich und streichelt heimlich meine Brust. Mir wird sofort ganz heiß.
»Ethan, bitte«, protestiere ich, aber ich bin eigentlich froh, dass mein Körper reagiert. Ethan haucht eine Spur aus Küssen von meinem Ohr bis in den
Weitere Kostenlose Bücher