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Neva

Neva

Titel: Neva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Grant
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tippen auf ihren Computern und reden miteinander, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Vielleicht heißt die Abteilung wegen des Durchschnittsalters der Angestellten Altgeschichte. Ich bin weit und breit die Jüngste – und das um mindestens dreißig Jahre.
    Laut Dad ist Effie krank gewesen, und nun soll ich ihr bei einem Nachdruck unseres Geschichtsbuchs helfen. Das Geschichtsbuch ist das einzige Schriftwerk, das noch gedruckt und in Massen produziert wird. Eine riesige Verschwendung von Rohstoffen. Effie plaziert mich am anderen Ende ihres Schreibtischs. Ich bekomme die Fahnen des neu herauszugebenden Buches plus einen tatsächlich zwei Fuß hohen Stapel an Korrekturen von anderen Ratsmitgliedern und wichtigen Leuten aus Dads Abteilung. Die Leute hier lieben offenbar die Umformulierung. Jemand hat zum Beispiel das Wort »verlangen« gestrichen und durch »ersuchen« ersetzt:
Die Regierung ersuchte jeden Bürger, ein Treuegelöbnis zu leisten, bevor die Protektosphäre versiegelt wurde.
Es kommt einem zunächst nur wie eine nebensächliche Veränderung vor, aber sie hat einen gewaltigen Effekt: Zwischen »verlangen« und »ersuchen« besteht schließlich ein himmelweiter Unterschied. Die Regierung verändert alles in winzigen Grauabstufungen, bis das, was vorher weiß war, schwarz geworden ist.
    Ich lese das Eröffnungskapitel über den
Terror
noch einmal. Sogar dieses erste Kapitel wurde verändert, wahrscheinlich von meinem Dad. Mit Rotstift sind schöne bunte Adjektive eingefügt worden.
Massive
Explosion.
Extreme
Panik.
Zwingend notwendige
Maßnahmen.
Höhere
Rasse. Aber kein Wort über das, was draußen ist. Als sei an diesem Tag alles, was existiert hat, ausgelöscht worden. Als wir in der Schule Geschichte durchgenommen hatten, fragte ich Dad, was vor dem
Terror
gewesen sei. Er schloss die Augen und holte tief Luft. »Alles hat einen Anfang, Neva«, antwortete er und strich mir über das Haar.
    Jemand hat zwei Absätze über eine Person namens James Washington gestrichen. Ich entferne die Passagen aus dem Text, und mir rinnt ein eisiger Schauder über den Rücken. Ich helfe der Regierung dabei, Leute aus der Geschichte zu löschen. Zukünftige Generationen werden niemals erfahren, dass James Washington den losen Schutthaufen stabilisiert hat, der einst das Capitol gewesen ist. Erst dadurch konnte er zu einem Denkmal für alle werden, die während des
Terrors
umgekommen sind. Nur ein paar Sekunden Arbeit sind nötig, und er ist für immer und ewig aus unseren Gedächtnissen verschwunden.
    Ich weiß nicht, ob ich das tun kann. Aber habe ich denn eine Wahl? Entweder werde ich zu einer kleinen, braven Regierungsangestellten, oder ich verschwinde wie James Washington. Ist das der Grund dafür, warum es mit unserem Land bergab geht? Menschen wie ich tun, was man ihnen aufträgt. Niemand stellt Fragen. Und
wenn
ich das tue, bin ich nicht besser als mein Dad oder die Polizei.
    »Warum redigieren wir die Geschichte?«, frage ich, während mein Stift zum Streichen einer Maria Hamilton ansetzt.
    Effie, die gerade tippt, hält inne. Ihre Finger schweben über der Tastatur. »Ich habe doch gewusst, dass das keine gute Idee ist.«
    »Was?«
    »Dein Job ist es nicht, Fragen zu stellen, junge Dame.« Und schon tippt sie weiter.
    Mag sein, dass ich zumindest fürs Erste keine andere Wahl habe, als diesen Job zu erledigen. Trotzdem habe ich noch immer eine Stimme. »Und was machen Sie gerade?« Ich rutsche ein wenig näher an sie heran. Mein Rock verfängt sich allerdings, daher erhebe ich mich ein Stückchen und zupfe den Stoff wieder zurecht.
    Sie dreht mir den Rücken zu, so dass ich ihr nicht über die Schulter sehen kann. Das macht mich natürlich umso neugieriger. »Falls du es unbedingt wissen willst: Ich kümmere mich um die Tagesnachrichten«, antwortet sie widerstrebend.
    »Was?« Ich wusste ja, dass mein Vater für die Verwaltung von Informationen zuständig ist, aber langsam wird mir klar, dass es hier mehr um Zensur als um die Verbreitung geht.
    Sie holt Luft, und der Atem rasselt in ihrer Lunge, bevor sie ihn ausstößt. »Der Informationsdienst sieht alle Nachrichten durch und schickt mir die Berichte, die eine besondere Zuwendung erfordern.«
    Ich spähe über ihre Schulter. »Die eine besondere Zuwendung erfordern – was heißt das denn?«
    Effie schnalzt mit der Zunge und sieht mich missbilligend über den Rand ihrer Brille an. »Das geht dich nichts an.«
    Ich konzentriere mich ein Weilchen auf

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