Neva
durch meine Adern gejagt. »Ja, Sir.«
Dad drosselt das Tempo und bremst für eine Gruppe von Männern in grauen Anzügen. Er wendet den Kopf und mustert mich. Er weiß von der Party und den Slogans. Keine Ahnung, woher, aber er weiß es. Nun hat er mir sogar meine Geheimnisse gestohlen.
Ich muss mir ein Video über Patriotismus und meine Rolle als Mitglied der Zentralen Regierung ansehen. Eine junge Frau, die ungefähr so alt ist wie ich – laut Namensschild heißt sie Jessica –, drückt mir einen Vertrag mit fünf engbeschriebenen Seiten in die Hand und weist mich an, auf der gepunkteten Linie zu unterschreiben. »Ich möchte ihn erst lesen«, erwidere ich. Sie schnauft. Im Vertrag steht, dass ich zuallererst und vor allem Regierungsangestellte bin und alles andere zweitrangig ist. Jessica funkelt mich verärgert über ihren Tisch hinweg an.
»Kannst du dich ein bisschen beeilen …«, beginnt sie und wirft einen Blick in meine Akte, »… Neva? Ich habe noch anderes zu tun.«
Ich nicke. Sie verdreht die Augen und beginnt, auf ihrer Tastatur zu tippen. Ich lese den Vertrag noch einmal. Die Buchstaben sind so klein, dass ich ihn nah an die Nase halten muss, um überhaupt etwas zu erkennen. Es kommt mir vor, als würde ich einen Pakt mit dem Teufel schließen. Ich frage sie nach der Vertraulichkeitsklausel, und sie sieht nicht einmal auf. »Das heißt, du hast die Klappe zu halten, Herzchen.«
Ich muss diesen Vertrag unterschreiben. Es ist seltsam, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, als ich bestätige, dass ich die oben aufgelisteten Konditionen und Bedingungen verstehe und akzeptiere. Ich verstehe sie nur allzu gut, und ich akzeptiere sie ganz und gar nicht. Was kümmert es mich, wenn ich eine Regierung anlüge, die mich mein ganzes Leben lang belogen hat?
»Liebchen, unterschreibst du jetzt, oder was?«, fragt Jessica, die nun vor mir steht.
»Klar«, sage ich und setzte den Stift auf das Papier. Kurz bevor die Tinte die Seite durchweicht, bewege ich die Hand. Ich betrachte das, was ich schreibe, nicht als meinen Namen: Es sind bloß Linien und Schlaufen, die sich in vorbestimmter Weise aneinanderfügen. So bedeutet mir das Ganze wenigstens nichts.
Nun habe ich eine Marke und eine Angestelltennummer. Jessica führt mich im Gebäude herum. Sie zeigt mir jede Abteilung und zitiert dabei die passenden Fakten aus irgendeinem Propaganda-Handbuch: »Das Ressourcenmanagement nimmt die obersten zwei Etagen ein. Die Abteilung ist verantwortlich für die Verwertung und die Neuzuordnung vorhandener Güter sowie für die Verwaltung natürlicher Rohstoffe.« Ihr Pferdeschwanz hüpft. »Hi, Bill«, ruft sie einem kleinen dicken Glatzkopf zu. »Das ist der Leiter von Forschung und Entwicklung«, erklärt sie mir, während sie Bill anstrahlt. »Und die da.« Sie deutet mit einem Nicken auf eine Frau in einem gelben Kostüm. »Sie leitet die Sammel- und Umverteilungszentren. Gut, sie zu kennen.« Sie winkt der Frau in Gelb zu. »Hi, Joann.« Im vertraulichen Flüsterton fährt sie fort: »Sie hat für mich ein Ersatzteil für den alten Fernseher meines Vaters besorgt und mir außerdem mal eine Lederhandtasche mitgebracht, bei der nur das Futter ausgetauscht werden musste.«
Die Stockwerke unterscheiden sich kaum. Jeder verfügbare Platz ist belegt. Es ist, als hätte jemand das Gebäude oben aufgemacht und Möbel hineingekippt. Ein Mann sitzt an einem alten Massivholzschreibtisch auf einem Plastikküchenstuhl. Zwei Leute teilen sich einen Arbeitsplatz, der aus zwei Aktenschränkchen besteht, über die man eine Holzplatte gelegt hat. Auf ein paar Schreibtischen stehen alte Computer. Wir bahnen uns unseren Weg durch das Gebäude und landen schließlich im Flügel des Informationsdienstes – den kenne ich schon.
Sie liefert mich an Effies Tisch ab. Die Frauen nicken sich zu, wechseln aber kein Wort miteinander. Ich habe Effie das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen, kurz bevor meine Großmutter verschwand. Sie hat sich nicht verändert. Noch immer trägt sie diese stoppeligen Wollkostüme. Das braune Brillengestell ist mandelförmig, und ihr Haar ist in einem so festen Knoten zusammengefasst, dass ihre Augen fast wie Schlitze aussehen. Ihre Lippen bilden eine dünne rote Linie.
Effies Schreibtisch besteht aus Holz, und sie sitzt auf einem Metallklappstuhl. Ihr Arbeitsplatz befindet sich direkt vor Dads Büro. Ich sehe nicht zueinanderpassende Tische und Stühle, so weit das Auge reicht. Männer und Frauen
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