Neva
schlägt sie auf die Akte und schließt sie wieder. »Du machst diese Kopien und zwar jetzt gleich.«
Oh, schon kapiert. Sie will mich nicht hier allein sitzen lassen. Man darf mir nicht trauen. Ich nehme die Akte. Soll sie ruhig glauben, dass ich ihren Befehlen gehorche, aber diese Gelegenheit lasse ich mir auf gar keinen Fall entgehen. Wer weiß, wann sich mir wieder die Gelegenheit bietet, mich in der Datenbank umzusehen?
»Worauf wartest du?« Sie wedelt mit der Hand, als sei ich eine lästige Fliege, die ihr Picknick stört.
Wir ziehen in entgegengesetzte Richtungen davon, und ich höre ihre Gummisohlen in kurzen Abständen auf dem gefliesten Boden quietschen. Hinter der nächsten Ecke warte ich, bis das Geräusch ihrer Schritte verstummt. Sobald ich ganz sicher bin, dass sie weg ist, renne ich zurück zu unserem Tisch. Ich rutsche auf ihren Platz; das Metall des Stuhls fühlt sich kalt an meinen Beinen an. Schnell klicke ich RegNet an. Der Pfeil liegt über »Aktiv«, und ich klicke »Inaktiv« an. Eine Dialogbox erscheint und fordert mich auf, einen Namen einzugeben. Ununterbrochen lasse ich den Blick zwischen Bildschirm und Flur hin- und herwandern. Mit zitternden Fingern tippe ich den Namen meiner Großmutter: Ruth Laverne Adams. Der Computer nimmt sich ein paar Sekunden Bedenkzeit. Ich kann nicht fassen, dass es so lange dauert.
Keine Treffer.
Die Wörter scheinen auf dem Monitor zu funkeln.
Sie ist nicht »inaktiv«. Sie ist nicht tot!
Dennoch ist sie verschwunden. Instinktiv rutsche ich näher an den Computer heran. Ich setze mich so vor den Bildschirm, dass mein Vater nichts erkennen kann, falls er zufällig aus seinem Büro hinter mir herauskommt.
Ich wechsele in den Aktiv-Modus. Wieder gebe ich Großmamas Namen ein. Der Schirm wird schwarz. In der Mitte erscheinen einige rote Buchstaben:
U-N-T-E-R V-E-R-S-C-H-L-U-S-S.
Was soll denn das heißen? Schon jetzt eine Sackgasse?
Der Monitor flackert auf und kehrt eigenmächtig zur Homepage von RegNet zurück. Meine Hände erstarren über der Tastatur. Wenn sie Telefone anzapfen und Menschen orten können, dann überwachen sie bestimmt auch Computeraktivitäten. Ich bewege den Cursor zum X und schließe das Programm.
Aber ich kann doch jetzt nicht aufhören. Ich bin zu nah dran. Auf diese Chance habe ich so lange gewartet. Ich muss es riskieren. Außerdem ist es ja Effies Computer: Sie informiert sich bestimmt ständig über irgendwelche Leute. Ich will nach jemand anderem suchen – bloß nach wem? Die roten Ziffern der Digitaluhr scheinen zu blinken, als würden sie die Sekunden bis zu Effies Rückkehr herunterzählen. Rot bringt mich auf Nicolines Stern. Ich klicke erneut auf das RegNet-Symbol, dann auf den Aktiv-Button und gebe schließlich Nicolines Namen ein. Die Datei enthält verschiedene Unterordner mit Titeln wie Ausbildung, Familie, Abstammung, Adresse, Reproduktionstatus, beruflicher Werdegang, unveränderliche Identifikationsmerkmale, Verbindungen und so weiter. Ich schaue mir die Adresse an und staune. Mir war nicht klar, dass sie nur vier Blocks von mir entfernt wohnt. In der Datei ist das Datum des Verhörs vermerkt. Ich erinnere mich an den Ausdruck in ihren Augen und an das Glitzern des roten Sterns auf ihrer Wange, als wäre die Farbe noch feucht.
Unter »Reproduktionsstatus« ist ein Datum notiert, etwa eine Woche nach dem Verhör – und das Wort
SCHWEBEND
.
Wie soll ich das verstehen? Außerdem lese ich Buchstaben, offenbar Abkürzungen, die für mich keinen Sinn ergeben:
FMZ
und
IVF
.
Ich höre das Klacken des Türknaufs. Hastig klicke ich RegNet weg und halte den Atem an.
»Wo ist Effie?«, will mein Vater wissen.
Ich drehe mich langsam zu ihm um, aber in meinem Inneren herrscht das Chaos: Mein Herz rast, mein Blut rauscht, meine Gedanken überschlagen sich. Er trägt den Laborkittel, den er im Büro immer anhat. Darin kommt er mir vor wie ein irrer Wissenschaftler. Hat er mitbekommen, was ich getan habe? Ich schaue ihm in die Augen, erkenne aber nur die übliche Missbilligung. Vielleicht hat er nichts bemerkt. Trotzdem sind meine Nerven zum Zerreißen gespannt, als wäre ich erwischt worden. Bleib ganz ruhig, befehle ich mir im Stillen.
»Neva, was ist los mit dir?« Er zieht die Brauen zusammen, als müsse er sich konzentrieren, um einen Code zu dechiffrieren. »Wo ist Effie?«
Ich muss mich dazu zwingen, die Worte herauszubringen. »Ähm, irgendein Notfall. Sie ist gleich zurück.« Aus irgendeinem Grund lache ich.
Weitere Kostenlose Bücher