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Neva

Neva

Titel: Neva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Grant
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gemeinsam in einen Spiegel sieht. Ich gehe ihm nach. Das Bild heißt »Das gespiegelte Paar«. Ich beobachte, wie seine Augen sich hin und her bewegen, während er jede Einzelheit des Bildes und jeden Zentimeter der Leinwand systematisch in sich aufnimmt. »Siehst du, wie sich das ganze Bild aus zwei Hälften zusammensetzt? Der eine Teil ist im Spiegel zu sehen, der andere davor. Das ist brillant.« Behutsam streckt er die Hand aus, als wollte er das Bild berühren. »Da. Er hat die Lichtquelle gezeigt, ohne sie tatsächlich zu malen. Siehst du das?«
    Er spricht gar nicht wirklich mit mir. Ich sehe zwei Menschen, die jeder und niemand sein könnten. Sein Oberkörper ist nackt, sie trägt ein cremefarbenes Unterkleid, sonst nichts. Er steht hinter ihr, doch sie berühren sich nicht. Sie sind zusammen aufgewacht und können sich nun nicht in die Augen sehen, also schätzen sie im Spiegel die Konsequenzen ihrer Tat ab. Sie bereut die vergangene Nacht, und er greift nach ihr. Seine Hand ist zwar nur angeschnitten zu sehen, aber er streckt sie aus, als würde er sie anfassen wollen.
    »Warum zeichnest du nicht einmal mich?« Plötzlich wünsche ich mir, dass er mich betrachtet und mit dem Stift festhält, jeden Umriss nachmalt, so dass ich im Augenblick verankert und existent bin. »Ich kann dir Modell stehen«, sage ich, schiebe die Hüfte vor und mache einen Schmollmund.
    »Neva, du musst mir nicht Modell stehen. Ich könnte dich im Schlaf zeichnen.« Er küsst mich auf die geschürzten Lippen und geht weiter zum nächsten Bild.
    »Vermutlich hast du recht. Porträtmaler haben es leicht: Sie brauchen nur ein Gemälde anzufertigen und können es dann hundertfach kopieren.«
    Ethan kneift die Augen zusammen. »Ich hätte nie gedacht, dass du auch zu diesen Leuten gehörst.«
    »Zu welchen Leuten?«
    »Zu den Leuten, die nur die äußerliche Ähnlichkeit sehen. Wir sind nicht identisch.«
    »Manchmal fühlt es sich an, als wären wir das.«
    Das nächste Bild zeigt eine alte Frau, deren Gesicht wie eine Landkarte aus Falten wirkt. »Wenn du mich anschaust, siehst du also nichts Besonderes«, sagt er.
    »Doch, natürlich.« Mir wird heiß, und meine Haut spannt.
    »Mach mal die Augen zu.« Er legt mir eine Hand über die Augen. »Und beschreibe mich.«
    Ich schließe die Augen nicht. Ich starre auf das rosafarbene Licht, das in parallelen Linien zwischen seinen Fingern hindurchdringt. »Du hast unglaublich weiche Haut.«
    »Nein, Neva. Wie sehe ich aus? Beschreib mich, wie du ein Gemälde beschreiben würdest.« Jetzt hat er sich hinter mich gestellt.
    »Okay.« Ich mache eine Pause, um mich zu sammeln. »Du hast welliges braunes Haar, sehr kurz geschnitten. Deine Augen sind braun. Und du trägst das gestreifte Hemd, das ich dir geschenkt habe.«
    »Du bist hoffnungslos.« Er zieht seine Hand weg, bleibt aber hinter mir und legt seinen Arm um meine Taille. Ich wünschte, es wäre Braydon, der mich so hält. »Deine Haarfarbe ist wie ein Strand an einem Regentag. Auf der rechten Seite ist es welliger als auf der linken. Du hast volle, schöne Lippen, die dunkler werden, wenn ich dich geküsst habe, so dass sie fast genau die Farbe von Erdbeeren im Juni haben. Deine Figur ist birnenförmig.«
    »Oh, vielen Dank!« Ich wende mich ab und entferne mich ein paar Schritte. Ich kann ihn nicht ansehen. Er starrt mich an und zieht mich mit seinen Blicken aus, das weiß ich. Und ich kann jetzt nur an Braydon denken.
    »Komm her.« Er folgt mir und legt wieder den Arm um meine Taille. »Ich bin noch nicht fertig. Deine Taille ist schmal, und mein Arm passt um deine Mitte, als wäre er dafür gemacht. Du hast runde Hüften, die dort einknicken, wo sie in die Beine übergehen.« Er lässt seine Hände an mir hinabgleiten.
    Ich winde mich aus seiner Umarmung. »Okay, okay, hab’s kapiert. Du hast das Spiel besser drauf als ich. Du hast gewonnen.«
    »Das ist kein Spiel, Neva.«
    Ich trete hinter ihn und lege mein Kinn auf seine Schulter. »Du kennst vielleicht meine Haarfarbe und die Form meines Hinterns, aber ich kenne dich dort.«
Zumindest war es mal so.
Ich greife um ihn herum und pikse ihn in die Brust. »Du bist ein toller Künstler, aber du zeichnest Körper nur in Teilen, weil du die Menschen ausschließlich auf diese Art wahrnimmst. Eine Hand. Ein Auge. Ein Blick oder eine Geste. Du hast höllische Angst, alles zusammenzufügen und etwas Ganzes zu malen. Du willst, dass eines Tages ein Bild von dir hier hängt. Du willst es so

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