Neva
wünsche mir so sehr, ihn zu küssen. Herrgott. Ich bin regelrecht berauscht.
»Ich kann das nicht«, wiederhole ich und trete aus Braydons Kraftfeld. »Ich muss zur Arbeit zurück.« Hastig wende ich mich ab und gehe. Ich will mich umschauen, doch ich weiß genau, dass er mir hinterhersieht. Ich spüre seinen Blick im Rücken. Der Kuss im Dunkeln hat mich scheinbar mit einem Bann belegt, und ich muss eine Möglichkeit finden, um mich davon zu befreien.
In Gedanken versunken, steige ich die restlichen Stufen hinauf. Zu spät entdecke ich die nachtschwarze Uniform vor mir. Ein Polizist versperrt mir den direkten Weg ins Gebäude. Ich ändere meine Zielgerade, doch er weicht ebenfalls zur Seite aus, so dass ich nicht vorbeikomme. Angst lässt mich innerlich erstarren. Wie lange beobachtet er mich schon?
»Du solltest wirklich darauf achten, was du tust«, sagt er. Und was soll das nun wieder heißen? Ich trete zurück und will ihn umrunden, aber er macht einen weiteren Schritt zur Seite. Seine breite Brust blockiert mein gesamtes Gesichtsfeld. Mein Herz rast, und ich lasse meinen Blick von seinem gebügelten Hemd zu seinem Gesicht wandern. Es ist nicht derselbe Mann, der mich verhört hat.
»Tut mir leid«, murmele ich. Endlich geht er aus dem Weg. Ich haste an ihm vorbei und komme erst wieder zur Ruhe, als ich mich an Effies Tisch setze.
Ich rufe Ethan an, und wir verabreden uns für später im Nationalmuseum. Vielleicht hat Sanna recht. Vielleicht muss ich einfach zu meinem alten Leben zurückfinden. Ethan will unseren Arbeitseinstieg feiern. Er glaubt, ich hätte meinen Widerstand aufgegeben. Und ich muss zurückbekommen, was Ethan und ich verloren haben, und aufhören, an Braydon zu denken.
Wir betreten die Eingangshalle des Museums und bleiben in der Mitte stehen. In Ethans Gegenwart fühle ich mich abwechselnd wie eine Verräterin und ein Zielobjekt. Die Regierung verfolgt jede seiner Bewegungen. Mir ist schmerzlich bewusst, dass ich beobachtet werde. In jedem Raum befinden sich Kameras, umherschweifende elektronische Augen. Selbst die Augen in den Gesichtern der Gemälde scheinen uns zu folgen. Meinen Verrat kann mir weder Ethan noch die Regierung ansehen, aber ich spüre ihn mit jedem Atemzug.
Wir stehen vor einem Wandgemälde. Ethan und ich sind nicht die Einzigen, die dieses riesige Werk bewundern. Der Künstler hat Heimatland aus einer Höhe von mehreren Meilen festgehalten. Die Protektosphäre glitzert in der Sonne, und das darunter eingeschlossene Land wirkt saftig grün und funkelnd blau. Das Bild spiegelt sich in den beigefarbenen Bodenfliesen unter unseren Füßen. Als die Sonnenstrahlen durch die Oberlichter auf die lebhaften Farben treffen, verändern sich auch die Farbstiche der angrenzenden Wände.
Dies ist das Lieblingsgemälde meines Vaters. Früher hat er mich häufig mit ins Museum genommen und über Altgeschichte und die Bedeutung der Protektosphäre doziert: »Die großartigste technische Errungenschaft der Menschheit!« Und er lächelte so gedankenverloren, als wäre er dabei gewesen und hätte selbst Bauplatte an Bauplatte gesetzt. Ich fand damals, dass das Gemälde uns klein und unbedeutend erscheinen ließe, und mein Vater erstarrte neben mir. »Du kannst nicht verstehen, wie es damals gewesen ist. Wir
waren
unbedeutend. Wir standen kurz davor, unsere Identität zu verlieren, aber unsere Gründungsväter haben unser Erbe bewahrt.«
Die Kunst im Museum unterstreicht, wie Heimatland sich entwickelt hat. Die Gemälde zeigen Menschen und Landschaften aus Hunderten von Jahren. Architektur und Mode haben sich verändert – und sind irgendwie dennoch gleich geblieben, als hätten wir immer noch den 01 . 01 . 01 . Mein Vater nennt das elegante Schlichtheit. Ich nenne es erdrückend.
Ethan und ich betrachten das Wandgemälde. Ich versuche, den Stolz nachzuempfinden, den mein Dad und vielleicht sogar Ethan dabei verspüren. Aber wenn ich diese Käseglocke ansehe, fühle ich mich vor allem eins: gefangen.
Ethan küsst mich auf die Wange. »Hast du Lust, in die Ausstellung junger Künstler zu gehen?«
»Klar.« Ich folge ihm die Treppe hinauf und durch zwei weitere Hallen in die Abteilung für moderne Kunst. Obwohl hier »junge Künstler« hängen sollen, ist das neuste Gemälde über zehn Jahre alt. Ethan und ich sind schon einmal hier gewesen. Ethan bleibt in der Mitte des Raumes stehen und lässt jede Leinwand auf sich wirken. Dann tritt er vor das Porträt eines Paares, das
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