Neva
hätte ich nichts gehört.
»Neva!«, wiederholt die vertraute Stimme lauter. Ich kann sie nicht ignorieren.
»Neva! Hier drüben!« Ein Junge winkt mir und kommt auf mich zugeeilt. Mein erster Impuls drängt mich zur Flucht, doch ich widerstehe. Als er näher kommt, erkenne ich seine Gestalt. Sein kurzes Haar. Das blau-grau gestreifte Hemd, das ich ihm zu Weihnachten geschenkt habe. Die tiefliegenden Augen.
»Ethan«, sage ich, als er bei mir ist, und schlinge die Arme um ihn. Ich bin in Sicherheit. »Was machst du denn hier?« Eigentlich ist es mir egal. Er ist da, und das ist alles, was zählt. Wenn sie kommen, kann er ihnen sagen, dass ich die ganze Zeit bei ihm gewesen bin.
»Ich habe dich angerufen«, entgegnet er, streicht mir über das Haar und glättet den Knick, den das Haarband hinterlassen hat.
»Ich weiß.« Mom hat mir all seine Nachrichten ausgerichtet. Plötzlich wird mir klar, was ich gerade getan habe. Er wird es missverstehen und glauben, dass er mir gefehlt hat, dass ich ihn zurückhaben will. In Wahrheit aber habe ich ihn gesehen und an ein Alibi gedacht. Es ist traurig, dass ich nach all den Jahren, die wir zusammen gewesen sind, bei seinem Anblick keine tieferen Gefühle hege. Ich bewege mich ein Stück von ihm weg. »Was machst du hier?«, frage ich erneut.
Er küsst mich auf die Wange und flüstert: »Die Demo.«
»Wirklich? Aber ich dachte, du …«
Er nimmt meine Hand. »Ich dachte mir, dass du hier bist.«
»Das kannst du doch nicht machen«, erwidere ich. »Das ist viel zu gefährlich für dich. Was, wenn man dich …?«
»Ich liebe dich, Neva.« Er will mich an sich ziehen, aber ich lasse es nicht zu. »Das weißt du, nicht wahr? Ich kann nicht ohne dich leben.«
Vielleicht beobachten sie ihn gar nicht. Ich sollte ihm erzählen, was ich bei der Arbeit von Tim über die eher sporadischen Überwachungsmaßnahmen erfahren habe, aber wahrscheinlich würde er sich nur aufregen, weil ich mal wieder herumgeschnüffelt habe. Und vielleicht gehört er ja doch zu den wenigen, die man genau im Visier hat. Möglicherweise wäre alles anders, wenn sie Ethan nicht überwachen würden. Doch all das spielt jetzt keine Rolle mehr.
Ich bemerke, dass die Polizei die Menschenmenge eingekesselt hat und den Ring um sie zusammenzieht. »Lass uns gehen.« Die Polizei sucht mich. Ich bin eine Diebin auf der Flucht. Ich habe den Demonstranten den gestohlenen Zeitungsartikel überlassen. Ich trage einen Brief von meiner verloren geglaubten Großmutter in meinem Slip.
Wir entfernen uns vom Platz und nehmen ausschließlich Seitenstraßen, bis wir am Bahnhof ankommen. Ich küsse ihn auf die Wange. »Ich muss wirklich nach Hause.« Ich will den Brief lesen.
»Ich fahre mit dir.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Einerseits möchte ich, dass er mich nach Hause bringt. Es ist Ethan, ich vertraue ihm. Wir kennen uns seit einer Ewigkeit. Alles um mich herum verändert sich, doch Ethan liebt mich immer noch. »Lass nur. Das brauchst du nicht.«
»Aber ich will.« Er lächelt sein liebes, herzliches Lächeln, und ich entdecke darin ein wenig vom alten Ethan, in den ich mich damals verliebt habe. Der Junge, der mit zwölf bei den Nachbarn Blumen geklaut und sie mir mitsamt Erdklumpen an den Wurzelresten überreicht hat. Ich darf mich jedoch keinen Illusionen hingeben. Der alte Ethan wird niemals zurückkehren.
»Ethan, wir haben Schluss gemacht, weißt du noch? Du musst nach vorne sehen.«
Sein Gesicht färbt sich rot, und Tränen treten in seine Augen. »Ich dachte, wenn ich dir zeige, dass ich mich ändern kann, dass ich die Person sein kann, die du haben willst …«
»Nein, Ethan«, unterbreche ich ihn bestimmt. Ich will keinen Raum für Zweifel lassen. Er kann nie der Mensch sein, den ich mir wünsche. Er kann niemals Braydon sein. »Es tut mir leid, Ethan, aber ich …« Wie soll ich es ihm bloß sagen, wenn er mich anschaut, als würde ich sein Leben beenden?
»Ich liebe dich nicht mehr«, platze ich schließlich heraus. Nun, da es ausgesprochen ist, würde ich es am liebsten zurücknehmen, damit ich nicht sehen muss, wie der Lebensfunke aus seinem Blick weicht. Aber vielleicht bin ich in vier Tagen fort. Ich will nicht, dass er mich vermisst oder nach mir sucht. Ich will nicht, dass er die Ungewissheit und die Furcht empfinden muss, die mein Leben seit dem Verschwinden meiner Großmutter vor zehn Jahren beherrscht haben.
Ich gehe weg. So ist es am besten, sage ich mir selbst im
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