Neva
Mitternacht zum Capitol-Komplex.« Er verstummt und schaut sich um.
»Hier.« Vorsichtig holt er einen Brief aus seiner Jackentasche, schiebt ihn mir zwischen die Finger und hält meine Hand mit dem Umschlag nah an seine Brust. »Lies ihn nicht sofort. Versteck ihn erst einmal gut. Such dir einen sicheren Ort zum Lesen, und vernichte ihn anschließend. Er ist von deiner Großmutter. Sie hat mir vertraut, und das kannst du auch.«
Das ist doch alles nicht möglich, oder?
»Hast du ein Kenn-Zeichen?«, fragt er.
Ich nicke.
»Ich muss wissen, was es ist«, fährt er fort.
Jetzt erröte ich.
»Du wirst nur über dein Zeichen identifiziert, keine Namen. Beschreib es mir.«
Dies ist ein Augenblick, der mein Leben für immer verändern wird – und ich bin noch nicht bereit dazu. Ich kann ihm glauben und von meiner Tätowierung erzählen, oder ich kann aufstehen und gehen. Ihm zu vertrauen bedeutet möglicherweise, dass ich mein Leben aufs Spiel setze: Er könnte schließlich für die Regierung arbeiten. Aber vielleicht ist das hier auch die einzige Chance auf ein besseres Leben, die ich je bekommen werde.
»Also?« Er presst mir den Umschlag fester in die Handfläche, so dass ich die Kanten spüre. Ich falte den Brief in der Mitte.
»Ich habe eine Tätowierung in Form einer Schneeflocke«, antworte ich und stopfe den Umschlag vorne in meine Jeans. »Genau hier.« Ich zeige auf die Stelle unter dem Kuvert.
»Okay.« Er räuspert sich. »Mitternacht. In vier Tagen am Capitol-Komplex. Jemand wird kommen und verlangen, dein Kenn-Zeichen zu sehen. Merk dir das.«
»Aber das ist mitten in der Stadt.«
»Deshalb wird ja keiner Verdacht schöpfen. Die Polizei kontrolliert vor allem die Grenzen. Wenn du deiner Großmutter begegnest, grüß sie bitte von Thomas.«
»Kommen Sie denn nicht mit mir?«
Er schüttelt den Kopf. »Für mich ist es zu spät.«
»Und was, wenn …?« Es gibt so viele Was-wenns bei dieser Sache.
»Du bist Ruth Adams’ Enkelin. Du schaffst das.« Mit seiner weichen, faltigen Hand tätschelt er meine Wange. »Erzähl niemandem davon.« Nach einer kurzen Pause setzt er hinzu: »Niemandem.« Sein Blick ist nicht der eines Mannes über siebzig, sondern der eines jungen, entschlossenen Rebellen. »Neva, vertraue niemandem. Hast du verstanden?«
Ich nicke, aber wie soll ich ein solches Geheimnis vor Mom bewahren? Sie hat bereits so viel verloren. Und was ist mit Sanna? Ob es sie nach gestern Abend überhaupt interessiert, was aus mir wird? Und Braydon. Was mache ich mit Braydon? Ich kann doch nicht ohne ein einziges Wort verschwinden.
»Du solltest nicht länger mit mir zusammen gesehen werden. Es ist zu gefährlich.« Er wendet sich ab. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Meine Großmutter hat mir eine Einladung zu einer Reise auf die sagenumwobene andere Seite geschickt. Und ich habe keine Ahnung, ob ich sie annehmen oder ablehnen soll.
[home]
22 . Kapitel
A ls ich vom Fluss zurückgehe, bohren sich die Ecken des Umschlags in meinen Bauch. Es kostet mich enorme Beherrschung, ihn nicht aufzureißen und zu lesen. In der Mitte der Brücke trete ich ans Geländer und halte mich fest. Ich schaue auf, drücke das Kreuz durch und stelle mich auf die Zehenspitzen. Der Wind zerrt an meinem Pferdeschwanz, und einige lose Haarsträhnchen peitschen mir ins Gesicht. Thomas sitzt noch immer auf der Bank. Er hat sein Kinn auf den Stock gelegt, so, als würde er schlafen. Von dieser erhöhten Position aus entdecke ich ein paar Leute, die wie ein Muster angeordnet sind und sich alle im gleichen Abstand um ihn herum befinden. Waren die eben schon da? Ich glaube nicht. Das wäre uns aufgefallen. Aber sicher bin ich mir nicht.
Eine Frau in einem grauen Jackett geht nun zu Thomas und berührt ihn zunächst sanft, doch bald schüttelt sie ihn. Sie ruft die anderen, die sich sofort um ihn herum versammeln. Zwei Männer ziehen ihn auf die Füße. Ein schwarzer Transporter hält am Ufer. Die Menschen sind wie Tauben aufgeflattert, um Platz für den Wagen zu machen. Als Thomas die Schultern zurückreißt, lassen die zwei Männer ihn los. Er richtet sich auf, nimmt der Frau den Stock ab und geht auf den Van zu. Bevor er sich zum Einsteigen bückt, blickt er auf, und einen Moment lang begegnen sich unsere Blicke. Zu spät erkennen wir beide, dass das ein Fehler gewesen ist. Mein Adrenalinspiegel schießt in die Höhe. Die Frau bugsiert Thomas in den Wagen. Mit der flachen Hand schlägt sie aufs Dach, woraufhin der
Weitere Kostenlose Bücher