Neva
angerufen. Wollte sich mit mir treffen. Ich habe ihm erzählt, dass ich keine Zeit hätte. Er hat nicht weiter nachgefragt, und ich habe keine weiteren Erklärungen abgegeben. Wir tun so, als hätte sich nichts verändert, obwohl ich sicher bin, dass er genau wie ich spürt, wie weit wir uns voneinander entfernt haben. Wir haben abgemacht, uns morgen früh zu treffen. Wie immer.
»Vorsicht«, flüstert Sanna, während sie die Plastiktüten mit der selbstgemachten roten Farbe aus ihrer Handtasche holt und jedem Zweierteam eine davon reicht. Die wiederverschließbaren Tüten stammen aus den Beständen meiner Mutter; etwas derart Stabiles und Reißfestes gibt es heutzutage nicht mehr zu kaufen. Allerdings weiß ich noch nicht genau, wie ich erklären soll, dass vier Tüten, die sich seit Generationen in Familienbesitz befinden, plötzlich verschwunden sind.
Ich sehe mich im Kino um. Ein Dutzend Pärchen, die sich aneinanderschmiegen. Im Saal verstreut sitzen nur vier Einzelpersonen, die auf ihren Plätzen zusammengesunken sind und anscheinend nicht auffallen wollen. Ein Grüppchen Kids, einige Jahre jünger als wir, drängt sich vorne zusammen. Wir haben nichts Strafbares getan – noch nicht jedenfalls –, und trotzdem habe ich das Gefühl, als würde man uns beobachten. Sanna stößt mich mit dem Ellenbogen an. »Hör auf.«
Jetzt wird es dunkel. Ich halte den Atem an und versuche, nicht in Panik zu geraten. Zum Glück dauert es nur wenige Sekunden, bevor das Bild auf der Leinwand zum Leben erwacht. Musik dringt knisternd aus den alten Lautsprechern, und es erscheinen zwei junge, spärlich bekleidete Gestalten, die sich umschlingen und küssen und sich schwitzend betasten. Seit einiger Zeit laufen in den Kinos die neuen Filme ab sechzehn: Es sind deftige Liebesgeschichten, die mit jeder Menge sexy Szenen aus alten Filmen gespickt sind. Sanna nennt sie die »Spaß-am-Sex«-Streifen. Die Regierung kann uns schlecht befehlen, uns für Heimatland zu vermehren. Deshalb sollen wir mit diesen zusammengestückelten Filmchen angeheizt werden, auf dass wir uns nicht mehr beherrschen können. Wir winden uns in unseren Sesseln, kichern nervös und bemühen uns, nicht auf die Leinwand zu starren.
Ich schaue auf meine Uhr und stelle im gleichen Moment fest, dass praktisch jeder von den anderen dasselbe tut. Die ersten zwei Teams schlüpfen aus der Reihe, erst zu den Toiletten, dort aus dem Fenster und dann zu einem der vier Quadranten der Stadt. Delia hat eingewilligt, im Kino zu bleiben und uns später zu informieren, falls etwas geschieht, das wir wissen müssten. Manchmal reißt die Filmrolle. Oder vielleicht werden die jüngeren Kids während einer Kussszene hinausgeworfen. Wir haben versucht, an alles zu denken.
Sanna stupst mich an. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich sehe den Film im Weiß ihrer Augen flackern.
Ich wende mich Nicoline zu, die meine Partnerin bei dieser Aktion ist. Nicoline war die Erste in unserem Jahrgang, die sich ein Kenn-Zeichen gemacht hat. Als sie sieben Jahre alt war, hat sie sich mit einem wasserfesten Stift einen roten Stern auf die Wange gezeichnet – ähnlich wie ein Schönheitsfleck. Natürlich verblasste er mit der Zeit. Heute malt sie ihn alle paar Tage nach.
Sobald Nicoline und ich durch das Klofenster geklettert sind, setzen wir die Kapuzen unserer Sweatshirts auf. Der Farbbeutel steckt in der Kängurutasche meines Pullis. Wir bahnen uns unseren Weg durch die Stadt bis zum Flussufer, und ich bemühe mich, in den Nebenstraßen zu bleiben, in denen die Straßenlaternen noch funktionieren. Ich renne von einem Lichtkegel zum nächsten, aber die Dunkelheit scheint mich zu jagen.
»Was nun?«, fragt Nicoline, als wir am Fluss ankommen.
»Du passt auf, und ich male.« Langsam sehe ich mich um. Die Promenade ist leer. Das Mondlicht glitzert auf dem Wasser und hält die Finsternis in Schach. Ich knete die Tüte und schaue mich erneut um.
»Ich glaube, wir können loslegen.« Nicoline lächelt schwach.
Ich beuge mich vor und zögere, bevor ich einen winzigen Zipfel von der Plastiktüte abreiße. Die rote Farbe quillt hervor wie aus einer kleinen Wunde. Ich zwinge meine Hand zur Ruhe und schreibe » ÖFFNET DIE PROTEKTOSPHÄRE « in Großbuchstaben auf den grauen Beton. Die Farbe leuchtet beinahe. Adrenalin schießt durch meine Adern, und ich empfinde noch etwas anderes – Stolz! Es ist nicht viel, aber ich habe eine Spur hinterlassen.
Neva war hier.
Das Wasser plätschert leise ans Ufer,
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