Never Knowing - Endlose Angst
dem Bild. Die Überfälle hatten von den frühen Siebzigern an alle paar Jahre stattgefunden, aber manchmal hatte er auch zwei Sommer in Folge zugeschlagen. Dann waren wieder Jahre vergangen, ohne dass er irgendwo aufgetaucht war.
Ich klickte auf einen Link, der mich zum PDF einer Karte brachte, auf der jeder Ort, an dem er jemanden umgebracht hatte, mit einem kleinen Kreuz markiert war. Er war überall im Landesinneren und im Norden von British Columbia unterwegs, hatte jedoch nie in einem Park zweimal getötet. Wenn die Mädchen mit ihren Eltern oder ihrem Freund zelteten, brachte er diese zuerst um. Doch es war klar, dass die Frauen sein eigentliches Ziel waren. Ich zählte fünfzehn Frauen – gesunde, lächelnde, junge Frauen. Alles in allem schrieb man ihm mindestens dreißig Morde zu – er war einer der übelsten Serienmörder in der Geschichte Kanadas.
Auf der Website wurde auch die einzige Frau erwähnt, die ihm jemals entkommen war: sein drittes Opfer, Karen Christianson. Das Foto war grobkörnig, und sie hatte den Kopf von der Kamera abgewandt. Ich ging zurück zu Google und tippte
Karen Christianson
ein. Dieses Mal wurden zahlreiche Artikel aufgelistet. Im Sommer vor fünfunddreißig Jahren hatten Karen und ihre Eltern im Tweedsmuir Provincial Park in der westlichen Zentralregion von BC gezeltet. Die Eltern wurden im Schlaf in ihrem Zelt erschossen, Karen hingegen jagte er stundenlang durch den Wald, ehe er sie erwischte und vergewaltigte. Ehe er sie umbringen konnte, gelang es ihr, ihm mit einem Stein auf den Kopf zu schlagen und zu fliehen. Zwei Tage lang irrte sie in den Bergen herum, bis sie endlich aus dem Wald herausstolperte und ein vorbeifahrendes Wohnmobil anhielt.
Auf den meisten Fotos hatte sie ihr Gesicht versteckt, aber ein paar eifrige Journalisten hatten ihr Bild vom Abschlussjahr im Jahrbuch ihrer Highschool gefunden, aufgenommen nur wenige Monate vor jenem verhängnisvollen Sommer. Ich betrachtete das Bild des hübschen dunkelhaarigen Mädchens mit den braunen Augen. Sie sah Julia sehr ähnlich.
Das Telefon klingelte, und ich fuhr zusammen. Es war Evan.
»Hi, Schatz. Ist Ally schon im Bett?«
»Ja, sie war heute müde.«
»Wie war dein Tag, irgendetwas vom Privatdetektiv gehört?«
Normalerweise erzähle ich Evan alles, sobald er zur Tür hereinkommt oder ans Telefon geht. Doch dieses Mal blieben mir die Worte im Halse stecken. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, um alles einzusortieren.
»Hallo?«
»Er ist noch dabei.«
In dieser Nacht lag ich in meinem Bett und starrte die Decke an, versuchte, die entsetzlichen Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben und nicht daran zu denken, wie Julia ihr Gesicht von den Kameras wegdrehte, weg von mir. Stunden später wachte ich aus einem Traum auf, mein Nacken war schweißnass. Ich fühlte mich verkatert, mein Mund war trocken. Traumfetzen fielen mir ein – ein Mädchen rennt barfuß durch den dunklen Wald, ein blutiges Zelt, schwarze Leichensäcke.
Dann fiel es mir wieder ein.
Ich drehte mich um und sah auf die Uhr. 5:30. Nach diesem Albtraum noch einmal einzuschlafen konnte ich vergessen. Wie ein von einem Magneten angezogenes Stück Metall setzte ich mich wieder an den Computer. Ich betrachtete die Fotos der Opfer, las jeden Artikel über den Campsite-Killer, den ich finden konnte, erfüllt von Angst und Abscheu. Ich studierte alle Zeitungsartikel über Julia, jeden Informationsschnipsel in jeder Zeitschrift, musterte prüfend jedes Foto. Die Reporter hatten sie wochenlang verfolgt, hatten ihr Haus belagert und waren ihr überallhin gefolgt. Es waren hauptsächlich kanadische Medien, aber auch einige US -amerikanische Zeitungen hatten die Story aufgegriffen und verglichen Karen mit einem von Ted Bundys Opfern, das ebenfalls entkommen war. Als Karen verschwand, verlegten sich die Artikel auf Spekulationen darüber, wo sie sein mochte, doch allmählich wurde die Berichterstattung spärlicher.
An diesem Morgen erhielt ich auch die E-Mail von Tom mit Julias Fotos – an der Universität, wie sie zu ihrem Auto ging oder mit Katharine vor ihrem Haus stand. Ich verglich die Bilder mit den Fotos von Karen Christianson aus dem Internet. Es war definitiv dieselbe Frau. Auf einer Aufnahme berührte Julia eine Studentin am Arm und lächelte ihr aufmunternd zu. Ob sie mich berührt hatte, nachdem sie mich zur Welt gebracht hatte? Oder hatte sie einfach nur gesagt, man solle mich fortbringen?
In der letzten Woche habe ich zwar meinen Alltag
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