Never Knowing - Endlose Angst
hundertsten Mal anstieß, murmelte er: »Schlaf doch endlich, Sara.« Ich zwang mich, still zu liegen, doch die Gedanken schwirrten mir im Kopf, bis mir ganz schwindelig wurde. Vor meinem inneren Auge sah ich Horrorbilder von John, wie er einer Frau die Kleider vom Leibe zerrt, die Hände fest um ihre Kehle. Ihr Schrei zerreißt die Luft, als er mit Gewalt in sie eindringt.
Sobald Evan am Morgen aufgebrochen war, traf ich mich mit Billy und Sandy auf dem Revier. Übernächtigt klammerte ich mich an den Kaffeebecher, meine Stimme dagegen überschlug sich beinahe. Allmählich wurde ich ruhiger, als Billy sagte, ich hätte perfekt auf Johns Anruf reagiert, dass ich genau wüsste, »wann man kämpfen und wann man nachgeben muss«. Sandy nickte lächelnd, aber ich hatte das ausgeprägte Gefühl, dass sie stocksauer war. Ich war selbst nicht besonders glücklich. Ich hatte gehofft, dass es irgendwie von Nutzen sein würde, dass John dasselbe Handy benutzt hatte wie am Tag zuvor, aber sie erklärten mir, dass er ein Prepaid-Handy verwendete, das er bar bezahlt hatte. Niemand in dem Laden erinnerte sich daran, wie er aussah. Von nun an brauchte er lediglich neue Prepaidkarten zu kaufen, um weitertelefonieren zu können.
Der Anruf war aus der Nähe von Vanderhoof gekommen, also war er wieder in Richtung Osten unterwegs, möglicherweise zurück zum Knotenpunkt Prince George. Mein erster Gedanke war, dass er auf die Insel kommen könnte – wenn er die Nacht durchgefahren wäre, könnte er bereits in Vancouver sein. Ich fragte sie, ob ich in Gefahr wäre, doch Billy erwiderte, dass sie nicht der Meinung seien, aber um auf Nummer Sicher zu gehen, würde ab jetzt ein Streifenwagen mehrmals am Tag an unserem Haus vorbeifahren.
Selbst mit diesen Beschwichtigungen und trotz der SMS , die Billy mir später schickte –
Halten Sie durch! Sie machen Ihre Sache großartig!
–, dauerte es Stunden, bis ich nicht mehr bei jedem Geräusch zusammenzuckte. Als John am Dienstagabend immer noch nicht angerufen hatte, regte sich in mir die Hoffnung, dass er für immer verschwunden sein könnte. Aber gleichzeitig wurde ich das Gefühl nicht los, dass er sich gerade erst warmmachte.
Nachdem ich Ally gestern an der Schule abgesetzt hatte, fuhr ich nach Hause und ließ Elch in den Garten. Ich fühlte mich ruhiger als seit einer ganzen Weile und beschloss, mich vor unserer Sitzung am Nachmittag noch etwas in der Werkstatt auszutoben. Ich vertiefte mich in die Aufarbeitung eines kleinen Kirschholztischs, und ehe ich mich versah, waren ein paar Stunden verflogen. Mir fiel ein, dass Elch immer noch im Garten war. Ich erwartete, dass er an der Schiebetür wartete und mit seiner nassen Schnauze überall auf dem Glas Spuren hinterlassen hatte, doch er war nicht da. Ich öffnete die Tür und pfiff. Nichts.
»Elch?« Als er immer noch nicht angerannt kam, ging ich hinaus in den Garten. Steckte der kleine Racker schon wieder im Holzstapel fest? Doch als ich dort nachsah, war er nicht da.
Vielleicht wühlte er im Kompost herum. Ich folgte den Trittsteinen ums Haus herum. Dort war er auch nicht. Ich ging zum Gartentor und überprüfte es. Es war nicht verriegelt.
Ich rannte auf die Auffahrt und brüllte aus vollem Hals »Elch!«. Ein Hund bellte, und ich hielt den Atem an. Er bellte erneut – zu tief für Elch. Ich rannte die ganze Auffahrt herunter bis zu unserem Briefkasten.
Bitte, bitte sei da.
Aber er war nicht da.
Er war auch nicht bei irgendeinem unserer Nachbarn. Deshalb habe ich den Termin gestern abgesagt. Nachdem ich Sie angerufen hatte, verbrachte ich den Nachmittag damit, im Tierheim anzurufen, beim Tierschutzbund, beim Tierarzt …
überall
. Niemand hatte ihn gesehen. Nahezu hysterisch rief ich Evan an, flippte total aus und beschuldigte ihn, das Gartentor offen gelassen zu haben, als er den Garten saubergemacht hat. Er wurde immer lauter und wiederholte: »Sara, beruhige dich für eine Minute. Sara,
stopp
!«, bis ich lange genug den Mund hielt, dass er mir sagen konnte, er habe das Tor ganz sicher zugemacht.
Nachdem wir aufgelegt hatten, rief ich Billy an, überzeugt, dass John Elch entführt hatte, um sich zu rächen. Billy setzte sich sofort mit dem Streifenwagen in Verbindung, der ein Auge auf mein Haus haben sollte. Der Beamte sagte, er habe nichts Verdächtiges bemerkt, als er am Morgen vorbeigefahren war, doch Billy kam trotzdem vorbei und sah sich überall um. Nicht, dass es viel zu sehen gegeben hätte. Das Tor
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