Nevermore
Gwen und schlug Isobels Hand weg. Sie fuhr langsamer und schaltete die Scheibenwischer ein. Vier Scheibenwischerschwünge waren notwendig, um den Vogel auf eine Seite zu schieben, und ein fünfter und letzter, um ihn komplett von der Windschutzscheibe herunterzufegen. Mit einem nassen Klatschen fiel er an den Straßenrand.
»Ich hätte heute lieber zu Hause bleiben sollen«, murmelte Gwen und bog ab. »Hätte mir einen Film ausleihen sollen. Irgendeinen schlechten Liebesfilm, der einen zum Kotzen bringt. Denn gerade ist mir auch zum Kotzen zumute.« Sie blickte Isobel und wieder zurück und machte ein missmutiges Gesicht.
Das darauffolgende Schweigen gab Isobel Zeit, um nach zudenken. Jetzt konnte sie Gwen zwar nicht mehr aus der Sache heraushalten, aber es war auch nicht okay, sie noch weiter mit hineinzuziehen. Sie dachte daran, wie Pinfeathers in der Kantine neben Brad gesessen hatte, und stellte sich vor, wie er hier im Auto neben Gwen saß, die vollkommen ahnungslos weiterfahren würde. Sie stellte sich den Cadillac auf der Autobahn vor und dass ein leichter Schubs am Lenkrad genügte und schon würde das Auto in den entgegenkommenden Verkehr rasen.
»Hier links«, bedeutete Isobel ihrer Freundin.
Gwen setzte den Blinker und wechselte auf die Linksabbiegerspur. Die Ampel leuchtete grün auf. »Isobel, hast du heute in der Cafeteria wirklich etwas gesehen oder hast du nur Spaß gemacht?«
Isobel schluckte und wusste nicht, ob sie darauf antworten sollte. Was sollte sie auch sagen? Soweit sie wusste, war der Spruch Ich sehe tote Menschen bereits vergeben. Kam das in The Sixth Sense vor …?
»Hat jemand absichtlich den Vogel auf meine Scheibe geworfen? Ich glaube nämlich nicht, dass ich noch viel mehr von diesem Kram vertrage. Nicht ohne dir später die Rechnung für meine Psychotherapie zu schicken, das kann ich dir versprechen. Hörst du mir überhaupt zu, Isobel?«
»Nur ein Vogel«, murmelte Isobel und sah aus dem Fenster.
Sie passierten eine Gruppe Studenten, die auf dem Gehweg standen und darauf warteten, dass die Fußgängerampel grün wurde. Isobel beneidete sie. Sie sahen alle so normal aus in ihren Jacken und Jeans, mit ihren um den Hals geschlungenen Schals und in die Hosentaschen gesteckten Händen. Vermutlich sprachen sie über die nächste Vorlesung oder ihre Pläne für Halloween und waren genau wie Gwen vollkommen ahnungslos.
»Bieg hier ab«, sagte Isobel automatisch, als sie die Kreuzung zur Bardstown Road erreichten.
Ruckartig scherte Gwen aus. Entweder hatte sie immer noch Bammel oder sie war sauer.
»Dort«, sagte sie und bedeutete Gwen, rechts ranzufahren. Gwen parkte den Cadillac, stellte den Motor ab und legte die Schlüssel in ihren Schoß.
Isobel fasste nach dem Türgriff und Gwen, die anscheinend nicht im Auto warten wollte, stieg ebenfalls aus. Zusammen gingen sie zum Eingang des kleinen Secondhand-Buchladens.
Varen muss einfach hier sein, dachte Isobel. Er kann nirgendwo sonst hingehen. Nach der Schule kommt er normalerweise immer hierher. Er ist bestimmt hier und ich werde ihm alles erzählen können. Dieser Gedanke machte ihr Mut, sie öffnete die Tür und betrat den Laden. Gwen folgte ihr.
Der vertraute schwere Geruch nach abgestandener Luft stieg ihr in die Nase und das rostige Glockenspiel läutete, als die Tür hinter ihnen zufiel.
»Wo sind wir denn hier?«, flüsterte Gwen. »Und was wollen wir hier? Boah, ist das etwa eine Erstausgabe?«
Isobel legte einen Finger an die Lippen. Sie ging vor und zu zweit schlängelten sie sich durch die Regale hindurch zu der leeren Ladentheke. Sie kletterten über mehrere Bücherstapel und hielten Ausschau, konnten jedoch weder Bruce noch Varen irgendwo aufspüren.
Dann hörte Isobel das vertraute rasselnde Husten. Es kam von irgendwo hinten im Laden. Sie folgte dem Geräusch über den morschen Fußboden ins Hinterzimmer, in dem sich die nicht ganz so alt aussehenden Sachbücher befanden. Bruce stand zwischen den Regalreihen-und nahm ein Buch nach dem anderen aus einem Pappkarton, auf dem in Varens sorgfältiger, altmodischer Handschrift Sachbücher Tiere stand. Jedes Buch hielt er sich dicht vors Gesicht und musterte es mit seinem gesunden Auge, bevor er ihm einen Platz im Regal zuwies.
Isobel blieb in der Tür stehen und wartete darauf, dass er sie bemerkte. Sie wollte ihn nicht erschrecken. Aber Gwen stieß versehentlich gegen sie und rief damit bei Bruce ein gedämpftes »Uff« hervor, das Isobel klarmachte, dass sie
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