Nevermore
Mit gebleckten Zähnen und ausgefahrenen Krallen stieß er ein scheußliches Geräusch aus, eine Mischung aus dem kreischenden Todesschrei einer Frau und dem Aufheulen eines Dämons.
Es ging alles viel zu schnell, als dass Isobel Zeit gehabt hätte, zu schreien oder ihre Arme hochzureißen. Seine Klauen prasselten auf sie nieder.
Isobel stolperte gegen den Tisch hinter ihr.
Ein kreischender Wirbelsturm aus Federn verschlang das Licht. Pinfeathers’ Gestalt löste sich in violetten Rauch auf und wie ein Dämon, der von der Hölle verschluckt wird, verschwand er im Fußboden.
Nur ein Vogel
Blut. Wo war denn nur das Blut? Warum blutete sie denn nicht? Isobel suchte ihre Arme auf scharlachrote Spuren ab und wartete darauf, dass jeden Augenblick der Schmerz einsetzte. Diese Klauen waren durch sie hindurchgefahren. Sie sollte eigentlich völlig zerfetzt sein. Noch immer lag sie zusammengerollt auf dem Boden. Schließlich stand sie zitternd auf und erwartete, jeden Moment zusammenzubrechen. Doch dieser Moment kam nicht. Vielleicht stand sie einfach unter Schock.
»Miss Lanley, geht es Ihnen nicht gut?«
Die Frage kam von Mr Nott. Sein ruhiger Tonfall brachte Isobel urplötzlich auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie brauchte nur wenige Sekunden, um festzustellen, dass es still geworden war in der Cafeteria, und als sie aufblickte, sah sie, dass sie alle anstarrten. Hitze durchflutete ihr Gesicht.
Sie richtete sich kerzengerade auf und blickte in die Gesichter der Schüler, die an dem Tisch hinter ihr gesessen und zu Mittag gegessen hatten - der Tisch, den sie umgestoßen hatte. Umgeworfene Becher, ruiniertes Essen und pitschnasse Servietten zierten jetzt die Tischplatte. Alle sahen sie mit einer Mischung aus Entrüstung und Unsicherheit an. Das Schweigen hielt an, ein letzter vollkommen friedlicher Augenblick. Dann durchschnitt Alyssas Stimme barsch die Stille.
»Oh mein Gott, Isobel, du bist echt ein Trampel!«
Gelächter. Ein Ausbruch von lautem Gelächter durchbrach das unheimliche Schweigen. Schreckliches, quälendes, gnadenloses Gelächter. Warum musste sie schon wieder diesen Albtraum durchleben?
Isobel rannte zur Cafeteriatür. Aus den Augenwinkeln sah sie grinsende Gesichter verschwimmen. Sie glaubte, Brad hinter ihr herrufen zu hören, ignorierte ihn aber. Hastig marschierte sie an ihrem Tisch vorbei, ohne Gwen auch nur einen Seitenblick zuzuwerfen, drückte die Flügeltür auf und rannte den Flur entlang.
Sie betrat die Mädchentoilette und ließ die Tür hinter sich zufallen. Ihre Hände schlossen sich um den Rand des mittleren Waschbeckens. Sie stand da, versuchte, ihren Atem zu kontrollieren, und kämpfte gegen den Drang an, sich zu übergeben.
Ganz klar: Sie war dabei, durchzudrehen. Sie war dabei, vor allen Leuten den Verstand zu verlieren. Es gab keine andere Erklärung. Was stimmte denn bloß nicht mit ihr? Das eben konnte schließlich kein Traum gewesen sein, oder?
Widerwillig hob Isobel den Blick und sah in den Spiegel. Sie starrte in das tiefe Ozeanblau ihrer Augen. Noch nie hatte sie sich so allein gefühlt.
»Ich brauche Hilfe«, flüsterte sie. Ihr Gesicht sah fahl und abgespannt aus, ihre Nasenlöcher blähten sich, als sie tief einatmete. Sie atmete durch den Mund aus und schloss die Augen. »Ich weiß, dass du irgendwo bist und zuhörst.« Sie fragte sich, mit wem sie da überhaupt sprach. Mit Reynolds? Mit sich selbst? Mit Varen? »Es tut mir leid, dass ich beim letzten Mal nicht zugehört habe, aber jetzt höre ich zu. Bitte. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich weiß nicht mehr, was echt ist und was nicht.«
Jetzt waren die Worte ausgesprochen. Isobel öffnete langsam die Augen und bewegte sich etwas zur Seite, um den Raum hinter sich im Spiegel betrachten zu können. Sie wartete darauf dass etwas passierte, dass er vermummt und in seinen Umhang gehüllt vor einer der Kabinentüren erschien.
»Reynolds!«, flüsterte sie beschwörend seinen Namen.
Sie hörte ein Knarzen und richtete sich auf.
Die Tür zur Toilette öffnete sich einen Spalt und Gwen steckte den Kopf hinein. »Isobel, wir werden uns darüber unterhalten müssen, was du zum Frühstück isst. Denn es ist nicht gerade förderlich für dein Sozialleben, so viel steht fest. Ich werde dich das jetzt nur einmal fragen: Geht es dir gut?«
Isobel starrte auf das Spiegelbild ihrer Freundin.
»Ich habe deinen Rucksack dabei«, sagte Gwen. »Trotz der Standing Ovations, die du bekommen hast, hab ich
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