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Nevermore

Nevermore

Titel: Nevermore Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelly Creagh
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Stimmgabel, die tief in ihrem Inneren angestoßen worden war. Isobel blickte über ihre Schulter und stellte fest, dass der Sturm draußen heftiger geworden war. Die ineinander verstrickten Aste der dürren Bäume peitschten hin und her und schlugen wild die Krallen ineinander. Die Asche wirbelte in heftigen Böen umher und toste in sandsturmartigen Wolken über den Himmel. Dennoch drang kein Laut zu ihr.
    Isobel erreichte die letzte Stufe - doch sie war allein auf dem Dachboden. Tisch und Stühle, auf denen sie einst mit Varen gesessen hatte, schwebten durch den Raum, ebenso wie ein paar Bücher. Auch der abgenutzte Teppich trieb träge durch die Luft.
    Sie blickte aus dem Fenster oben an der Treppe, vor dem sie jetzt stand. Es hätte ihr eigentlich die Backsteinwand und die Fenster des Nachbargebäudes zeigen sollen. Stattdessen waren dort die sturmgebeutelten Wälder zu sehen. Genau dasselbe galt für das andere Fenster, das ovale über dem Tisch, das in der wirklichen Welt auf die Straße hinausgegangen war. Hier an diesem Ort hatte sie zum allerersten Mal Poe gelesen - Isobel hatte das Gefühl, als sei das schon Jahre her.
    Ihr Blick wanderte zu einem vertrauten, dünnen Buch, das neben dem Tisch schwebte. Isobel erkannte sofort, dass es Varens schwarzes Notizbuch war und pflückte es aus der Luft. Sie hielt es in der Hand und strich mit den Fingerspitzen über den Buchdeckel. Vorsichtig öffnete sie das Buch und blätterte durch die über und über in wunderschöner Handschrift beschriebenen Seiten. Bei einer Doppelseite mit Zeichnungen, die ihr bekannt vorkam, hielt sie inne.
    Grob skizzierte Gesichter starrten sie an. Gesichter, die unvollständig, entstellt waren. In der Mitte erkannte sie Pinfeathers’ vertraute Gesichtszüge. Isobel erinnerte sich an diese Seiten. Sie hatte sie schon einmal gesehen. Es war der Tag in der Bibliothek gewesen, als sie sich zum ersten Mal zum Lernen getroffen hatten.
    Isobel drehte das Buch und bemerkte ein Gedicht, das senkrecht zwischen die Zeichnungen und den Seitenrand eingequetscht war.
     
    Die Nocs
    Die Nocs
    Die im Boden leben.
    Die Nocs
    Die Nocs
    Von deren Klopfen Türen beben.
    Die Nocs
    Die Nocs
    Wo einer ist, wird’s viele geben.
     
    Isobel spürte, wie es ihr eiskalt über den Rücken lief. Sie blätterte weiter zur nächsten Doppelseite, dann zur übernächsten. Jede war mit Worten übersät, die ineinanderzufließen schienen. Sie blätterte noch schneller - die Seiten schienen ihr ihren Inhalt regelrecht zuzuflüstern. Ihr. Traum. Schlaf. Zurück. Sie. Wirklich. Muss. Rennen.
    Irgendwo in der Mitte des Notizbuchs fing Isobel oben auf einer Seite an zu lesen.
     
    Er stand wieder an diesem Ort, dem Wald zwischen den Welten und wartete auf sie. Sie erschien und ihre weiße Haut leuchtete geisterhaft blass im grellen Licht der Blitze. Der Himmel war stürmisch und ihr offenes schwarzes Haar fiel über ihre elfenbeinfarbenen Schultern. Graue Asche regnete vom Himmel. »Mein Gefängnis«, sagte sie, »es fällt auseinander. Wann wirst du nur endlich mein Ende schreiben? Wann, mein Geliebter, wirst du mich endlich befreien?«
    »Um Mitternacht«, flüsterte er. »In dieser Nacht aller Nächte des Jahres.«
    »Das hast du gut gemacht.« Sie schwebte zu ihm und küsste ihn zum allerersten Mal. Ihre blassen, kalten Lippen verschlossen seine und verbanden sie mit ihm.
     
    Isobel schlug die Seite um. Hier veränderte sich die Handschrift. Die eleganten Buchstaben verwandelten sich in unleserliche Kritzeleien und hingeschmierte Versuche. Unten auf der Seite las sie den einzigen Absatz, den sie entziffern konnte.
     
    Das sollte ihn eigentlich glücklich machen. Das sollte ihn eigentlich verändern. Doch das tut es nicht. Das kann es gar nicht. Er wurde bereits verändert. Und ich weiß nicht mehr, was ich schreiben soll, weil ich Angst davor habe, was es sein wird. Weil ich keinen klaren Gedanken fassen kann und sie mich bittet zu schreiben, aber ich weiß nicht, was ich schreiben soll, und ich kann keinen klaren Gedanken fassen, weil ich nicht weiß, was ich schreiben soll. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Isobel. Isobel. Isobel.
     
    Ein warmes Gefühl durchströmte Isobel und brachte sie zum Strahlen. Ungläubig starrte sie auf ihren Namen, der da so verzweifelt auf das schneeweiße Papier geschmiert stand. Sie hob das Notizbuch näher ans Gesicht und versuchte sich vorzustellen, wie Varen hier gesessen und diese Zeilen

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