Nevermore
Kreatur zu stellen, die vor ihr stand. Sie hob sie lieber zusammen mit vielen weiteren für Varen auf. An Pinfeathers, der anscheinend der Anführer der Nocs war, hatte sie jedoch ein paar andere Fragen. »Was werde ich hinter dieser Tür finden?«
»Die andere Seite dessen, was du kennst«, antwortete er lachend. »Genau wie ich.« Sein Lächeln verschwand.
Ein Schauer durchlief Isobel. »Was meinst du damit?« Sie versuchte, die Frage fordernd klingen zu lassen, doch nicht einmal sie selbst konnte die Unsicherheit und Furcht in ihrer Stimme ignorieren.
»Oh.« Mit schnellen, ruckartigen Bewegungen legte Pinfeathers die Distanz zwischen ihnen zurück, bis er direkt hinter ihr stand. Er legte ihr seinen verbliebenen Arm über die Brust. »Ich meine damit, dass dir das, was du hier finden wirst, möglicherweise ganz und gar nicht gefällt, das ist alles.«
Isobel versteifte sich, ließ es aber über sich ergehen, dass Pinfeathers ihr so nahe kam. Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Du kannst mich zwar berühren, aber du kannst mich nicht verletzen.«
»Was vollkommen in Ordnung geht«, meinte er. »Denn, falls du dich erinnerst, ich will dich gar nicht verletzen. Aber du musst verstehen, Isobel, dass diese beiden Dinge furchtbar nah beieinanderliegen.« Während er sprach, wanderte seine Hand ihren Kragen hinauf, seine Berührung war ganz zart. »Das zu tun, was wir wollen … und das zu tun, was wir sollen.« Seine eiskalten Finger legten sich um ihren Hals.
Isobel schnappte nach Luft und griff nach seiner Hand, die sich unter ihren Fingern plötzlich auflöste. Pinfeathers schwebte um sie herum, violette und schwarze Rauchwirbel mischten sich mit der aufgewühlten Asche. Dann setzte er sich wieder zusammen, um Isobel den Weg zur Tür zu versperren.
»Wenn du diese Tür öffnest, wirst du sie nie wieder schließen können«, warnte er sie.
»Genau wie du dein Mundwerk«, blaffte Isobel und drängte sich an ihm vorbei.
Angst blitzte in seinen Augen auf, er rückte zur Seite und löste sich wieder in Rauchwirbel auf.
Isobel legte die Hand auf die Klinke, was die Nocs in den Bäumen dazu veranlasste, ihr wildes Toben wieder aufzunehmen. Sie konnte sie flattern und rascheln hören.
»Du wirst da drin wesentlich mehr als Rückwärtssaltos und ein paar hübsche Tricks brauchen, Cheerleaderin!«, rief Pinfeathers. Mit einem ängstlichen Flüstern, das wie »Tekeli-li!« klang, glitt er davon.
Der Schrei wurde sofort von den anderen Nocs aufgenommen. Mit einem heiseren, schnarrenden Krächzen wiederholten sie das Wort. »Tekeli-li!«, riefen sie mit ihren vertrockneten Stimmen.
Das hatte Isobel schon einmal gehört - als sie das erste Mal in den Traumwäldern gewesen war. Doch was bedeutete es?
Die Nocs flogen von den schwarzen Ästen auf und kämpft mit ihren Flügeln gegen die stürmische Luft an. Sie trugen das seltsame Wort mit sich davon, bis sie schließlich in violett Rauchschwaden verschwanden.
Allein gelassen, widmete Isobel sich wieder der Tür. Sie atmete tief durch und drehte dann den Knauf. Die Tür öffnete sich knarzend nach innen. Als Isobel die Schwelle überquerte, hatte sie das Gefühl, sich über einen rauschenden Bildschirm zu bewegen. Das elektrisierende Gefühl verweilte auf ihrer Haut wie das Kribbeln von Ameisen, als sie einen kleinen, von Wänden umschlossenen Treppenabsatz betrat. Sofort verstummte der Wind in ihrem Rücken. Sie warf einen Blick zurück in die Welt aus herumfliegender Asche und Kohle. Ein leichtes Flimmern störte das Bild, so als würde man sich das Ganze auf einem leise geschalteten Fernseher ansehen.
Die Luft in dem Treppenhaus roch muffig, wie in einem alten Kleiderschrank. Dünne, kalte Streifen grauweißen Lichts strömten durch das quadratische Fenster über der schmalen Holztreppe. Staubpartikel tanzten darin wie winzige, verlorene Wesen. Das Treppenhaus selbst war zwischen zwei holzverkleidete Wände eingepfercht und führte, wie Isobel bereits wusste, hinauf zu einem Dachboden.
Asche glitt von den Ärmeln und Bündchen von Varens Jacke, als Isobel den ersten Schritt nach oben machte. Sie stützte sich mit ihren Händen an der Wand ab, dann machte sie einen zweiten Schritt. Das Holz knarzte dumpf unter ihren Füßen. Isobels Herz begann zu pochen, Blut schoss ihr in den Kopf und Adrenalin rauschte durch ihren Körper. Sie konnte spüren, dass sich jemand in dem Raum dort oben befand. Es fühlte sich an wie eine in der Luft schwirrende Vibration oder eine
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