Nevermore
geschrieben hatte. Wann? Da war kein Datum. Nach ihrem Namen, der dreimal wiederholt wurde, kam nichts mehr. Die Seite war vollkommen leer, bis auf einen kleinen roten Fleck unten in einer Ecke. Blut?
Ein kurzer, lauter Knall durchbrach die Stille. Isobel schrak auf und ließ um ein Haar das Notizbuch fallen. Die übrigen Bücher, der Tisch und die Stühle fielen mit einem lauten Klappe und Scheppern zu Boden.
Die Tür.
Isobel drehte sich um - sie war nicht länger allein.
An der Treppe stand eine Frau.
Weiß leuchtende Stoffbahnen waren um sie herumdrapiert und schmiegten sich eng an die Kurven ihrer zierlichen, aber groß gewachsenen Figur. Es schien, als wäre der Stoff aus Mondlicht gemacht. Ein hauchdünner weißer Schleier verhüllte ihren Kopf wie ein Leichentuch. Sie war wunderschön. Sie leuchtete wie ein Splitter eines erlöschenden Sterns. Ihr dichtes schwarzes Haar fiel ihr in weich gelockten Strähnen bis über die Fingerspitzen und stand in scharfem Kontrast zu dem Weiß. Hinter dem Schleier starrten sie zwei große onyxfarbene Augen unverwandt an.
Isobel brauchte einen Augenblick, um etwas sagen zu können. »Bist… bist du Bess?«
»Ich habe viele Namen«, antwortete die Geistererscheinung. Ihre Stimme klang tief und kehlig und doch vollkommen weiblich. »Ich bin Lila. Ich bin Ita und Li-li. Ich bin Ligeia. Ich bin Lilith.«
Isobel schluckte und ihr Mund wurde plötzlich trocken. Ganz schön schizophren, die Tante. Vielleicht wäre »Bist du eine gute oder eine böse Hexe?« die perfekte Anschlussfrage, aber Isobel entschied sich dagegen. Bess oder Lady Lilith oder wer auch immer sie war, schien nicht gerade der humorvolle Typ zu sein. Und trotz des ganzen Weiß schien sie Isobel auch nicht der Gute-Hexe-Typ zu sein.
»Ligeia …«, murmelte Isobel. Sie drückte das schwarze Buch fest an sich und kehrte in Gedanken zu dem Songtext zurück, den sie in der Eisdiele gehört hatte. Das Lied, das Varen über die Stereoanlage abgespielt hatte, während sie zusammen sauber gemacht hatten. »Aber sie ist doch nur eine Figur aus einer Geschichte.«
Die Frau hob den Arm und streckte ihr die Hand entgegen. Die Bewegung wirkte abrupt und unnatürlich und Isobel widerstand dem Drang, einen Schritt nach hinten zu machen. »Sind wir das nicht alle?«
Alle Warnsignale in Isobels Innerem blinkten wie verrückt.
Der hauchdünne Ärmel glitt zurück und gab den Blick auf die Hand der Frau frei. Ihre nach oben gerichtete Handfläche war noch weißer als der fließende Stoff und ihre Haut war so makellos wie Marmor. Hatte Reynolds sie nicht vor der Weißen gewarnt? Isobel spürte, wie sich ihr Kiefer verkrampfte. Falls sie ihn jemals Wiedersehen sollte, musste sie sich unbedingt bei ihm dafür bedanken, dass er ihr einen so nützlichen, detaillierten Rat gegeben hatte.
Isobel betrachtete die ausgestreckte Hand der Gestalt. Die stille Geste schien zu sagen, dass etwas ausgetauscht oder übergeben werden sollte, und Isobel drückte das Notizbuch noch fester an sich. Warum wollte sie es unbedingt haben?
Die Frau machte einen Schritt auf Isobel zu und die Schleppe ihres Schleiers raschelte über den Boden. Diesmal hörte Isobel sofort auf ihr Bauchgefühl. Sie wich zurück und stieß gegen den Tisch hinter ihr. Sie stützte sich mit einer Hand darauf ab und fand ihr Gleichgewicht wieder, während sie mit der anderen Varens Buch fest umklammert hielt.
»Du selbst, Isobel«, fuhr die weiße Gestalt fort, »könntest ein Schatten sein, der Traum eines anderen, der wiederum der Traum von jemand anderem ist.«
»Das macht nicht besonders viel Sinn«, entgegnete Isobel, weil es das Erstbeste war, was ihr in den Sinn kam. Wenn sie ein bisschen Small Talk mit ihr betreiben würde, konnte sie es während dessen vielleicht zum Treppenhaus und zur Tür schaffen. Doch auf der anderen Seite konnte sie noch nicht gehen. Wo war die Verbindung zwischen den Welten, die, die Reynolds ihr zu den aufgetragen hatte? War das nicht der Grund dafür, dass sie überhaupt hier war? Warum hatte sie sie denn noch nicht gefunden? Hatte Reynolds denn nicht gesagt, dass sie die Tür erkennen würde, wenn sie sie sah? Und selbst wenn sie sie fand wie zum Teufel noch mal sollte sie die Verbindung denn zerstören?
»Ich habe dich die ganze Zeit über beobachtet«, sagte die Geisterfrau. »Seit der ersten Nacht, in der du in seinen Träumen aufgetaucht bist.«
Isobel drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und bewegte sich langsam
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