Nevermore
zurück zur Treppe. Die Frau drehte sich um und der hauchdünne weiße Stoff legte sich noch enger um ihre Gestalt, wie das Gewand einer Mumie. Die schwarzen Schächte ihrer Augen hinter dem Schleier verfolgten Isobel auf Schritt und Tritt.
»Zunächst hast du nur Öl ins Feuer gegossen. Hast seinen Hass genährt. Ich hätte dir dafür sogar dankbar sein müssen. Doch dann haben sich seine Träume verändert.« Sie neigte den Kopf unter dem hauchdünnen Stoff zur Seite und runzelte die zarte Stirn, so als würde sie diese Feststellung nicht ganz verstehen. »Ungebeten bist du in die Winkel seines Unterbewusstseins eingedrungen und hast unsere Zeit gestört. Schon allein dein Bild war eine Belästigung, eine Ablenkung.« Ihre flache Hand krümmte sich zu einer harten Faust. »Hier in diesem Raum war nicht ich der Geist, sondern du. Und deshalb habe ich sie dir auf den Hals gehetzt, solange sie noch gehorchen konnten. Schließlich warst du zu dem Zeitpunkt noch nicht mehr als eine Unsicherheit in seinen Gedanken. Sie hätten dich an diesem Abend auch gekriegt, wenn du nicht die Hilfe und den Beistand deines maskierten Beschützers gehabt hättest.«
Isobel brauchte nur eine Sekunde, um zu wissen, dass die weiße Frau über den Abend sprach, nachdem sie den Buchladen verlassen hatte, den Abend im Park. Sie erinnerte sich an das, was der tätowierte Noc aus der Krypta gesagt hatte. War er an diesem Abend auch dort gewesen? Damals war sie noch nicht in der Lage gewesen, die Nocs zu sehen. Und was war mit der Stimme, die ihr zugeflüstert hatte, dass sie weglaufen sollte? Hatte der Noc nicht auch ihren maskierten Freund erwähnt? Natürlich. Jetzt ergab das alles einen Sinn: Es war Reynolds gewesen, der versucht hatte, sie zu warnen.
»Am Ende wird es jedoch nicht viel geben, wofür du deinem geheimnisvollen Freund danken kannst«, sagte Lilith. »Mit der Zeit werde ich auch ihn aufspüren und dann wird er herausfinden, dass ich ein ganz besonderes Schicksal für die verlorenen Seelen bereithalte, die mich hintergehen.«
»Warum tust du das?«, wollte Isobel wissen. »Wieso Varen?«
»Er ist nicht wie die anderen, nicht wahr?«, fragte die weiße Frau fast wehmütig und glitt zu dem ovalen Fenster. Durch die Scheibe konnte Isobel ein neues Licht erkennen, warm und orange wie das einer Straßenlaterne. »Er ist etwas Besonderes, selbst im Vergleich mit seinen Vorgängern«, fuhr Lilith fort. »Genau wie sie hat er die Fähigkeit, die Geister und Schatten der Traumwelt zu sehen und zu verstehen sowie neuen Schatten Leben einzuhauchen, ihnen Körper zu schaffen, wie zum Beispiel den Nocs. Außerdem hat er diese Energie in sich, die ihn gleichermaßen zerstören und Dinge erschaffen lässt. Das Einzige, was ihm fehlt, ist Kontrolle und Beherrschung. Und genau das ist es, was ihn so perfekt macht. Heute Abend soll er meine Geschichte beenden. Heute Abend, wenn du ein für alle Mal verschwunden bist, wird er mich befreien.«
Was?, dachte Isobel. Noch mal zurückspulen, bitte. Was sollte denn dieses ein für alle Mal verschwunden bedeuten? Sie lächelte gequält, während sie sich Stück für Stück dem Treppenhaus näherte. Obwohl Isobel Varens Jacke trug, kapierte Lockenköpfchen anscheinend nicht ganz, dass Varen das Gebäude verlassen hatte, wortwörtlich. Es wurde langsam Zeit, dass auch Isobel von hier verschwand, egal, ob die Verbindung zwischen den Welten nun zerstört war oder nicht.
Und dann fiel es Isobel plötzlich wie Schuppen von den Augen. Instinktiv drückte sie das Notizbuch fester an sich. Das war die Antwort! Wie ein Blitz schoss sie ihr durch den Kopf. Es war alles hier, hier vor ihrer Nase: Varens Tür zur Traumwelt. Liliths Geschichte. Die Nocs. Das war die Brücke zwischen den Welten, Varens Weg hinein, der nun zu ihrem Weg hinaus wurde. Die Verbindung, von der Reynolds gesagt hatte, dass sie sie erkennen würde, wenn sie sie sah - sie hielt sie fest an sich gedrückt!
Lilith schien ebenfalls bemerkt zu haben, dass Isobel ein Licht aufgegangen war. Sie drehte sich zu ihr und starrte mit ihren unendlich tiefen schwarzen Augen durch sie hindurch. »Es ist zu spät. Du kannst nichts mehr tun. In der Nacht, in der er deinen Namen auf diese Seiten geschrieben hat, hat er dich verflucht. Du bist jetzt Teil der Geschichte. Das ist der Grund, warum du uns auch in deiner Welt sehen kannst. Oder hast du dich etwa noch nicht gefragt, warum das so ist?«
»Wenn ich dieses Buch zerstöre«, sagte Isobel, »wird
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