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nevermore

Titel: nevermore Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike
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fühlte sich weder warm noch kalt an, aber irgendwie auch nicht lebendig. Sie lauschte, doch er atmete nicht. Ihr Blick wanderte hoch zu dem Kinn und der Nase, die von einem blutbefleckten Schal verdeckt wurden. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte wenig erfolgreich, etwas in dem Schatten zu erkennen, den der breitkrempige Hut über Reynolds Gesicht warf.
    Sterne sprenkelten den Himmel, der durch ineinander verflochtene knorrige Äste blickte. Äste, die nicht den Bäumen aus den Traumwäldern gehörten. Ihre über und über von Blättern bedeckten Zweige wirkten viel zu friedlich und zu normal. War es möglich, dass sie sich wieder in ihrer eigenen Welt befand?
    Zunächst sagte Isobel nichts, weil sie viel zu viel Angst hatte zu hoffen. Sie wollte die Zeit anhalten, einfach einen weiteren Augenblick lang ruhig daliegen und ihre müden Gedanken und schmerzenden Muskeln ausruhen. Der schale, modrige Geruch, der von ihm ausging, störte sie jetzt nicht mehr so sehr und so an ihn gelehnt fühlte sie sich fast schon wohl. Und sicher.
    Isobel ließ Reynolds Umhang los und ihre Finger wanderten wie Spinnenbeine neugierig zu der glitzernden Kette, die ihr ins Auge gestochen war. Als sie daran zog, fiel ihr eine kleine, tickende Taschenuhr in die Hand. Sie drehte sie um und folgte mit den Augen dem Licht, das über die blank polierte Oberfläche glitt. Das Innere der Uhr bestand aus einem einfachen weißen Zifferblatt, auf dem sich römische Zahlen und drei schwarze Zeiger befanden. In den Deckel war ein Name eingraviert. Isobel strich mit dem Daumen darüber. »Augustus«, las sie laut. Ihre Stimme klang schwach und hohl, so als hätte sie sie schon lange nicht mehr benutzt. »Ist das dein richtiger Name?«, fragte sie. »Augustus?«
    »Ich wage zu behaupten«, sagte Reynolds, als zwischen den miteinander verstrickten Ästen über seiner Schulter die blasse Mondsichel zum Vorschein kam, »dass du dich in nicht halb so viele Schwierigkeiten bringen würdest, wenn du endlich lernen würdest, Dinge ruhen zu lassen.«
    »Okay, Augustus.«
    Er seufzte. »Augustus ist schon lange tot.«
    »Oh ...« Isobel klappte die Uhr zu und steckte sie wieder zurück in seine Tasche. »Und du nicht?«
    »Nicht ganz.«
    »Bin ... bin ich tot?«
    »Du seltsames Rätsel von einem Mädchen hast sehr viel Glück gehabt.«
    »Wo ... wo sind wir?«
    »Wir sind fast durch den Park hinter deinem Haus durch« antwortete Reynolds.
    »Und Varen?«
    »Er ist jetzt... auch zu Hause.«
    Zu Hause, dachte Isobel in einem plötzlichen Anflug von Sehnsucht. Sie presste die Lippen aufeinander und spürte, wie sich ihr Gesicht, von Gefühlen überwältigt, plötzlich verzog. Sie kämpfte gegen das drohende Brennen in ihren Augen an und zwang sich stattdessen zu lachen. Das Geräusch, das aus ihr herauskam, war allerdings eher ein ersticktes Bellen, das ihren Körper heftig durchschüttelte. Wie nur? Wie hatte sie es nur geschafft zu überleben, wenn ihr Tod doch schon besiegelt gewesen war? Isobel schloss wieder die Augen und atmete tief aus. Ihre schmerzenden Muskeln entspannten sich. In Sicherheit. Er war in Sicherheit.
    »Ich hatte auch einmal ein Zuhause. Und eine Familie.« Reynolds unterbrach ihre Gedanken. Isobel sah zu ihm hoch und war überrascht, dass er ihr so etwas Persönliches erzählte. Das war überhaupt nicht seine Art. »Keine eigene, das nicht. Ich habe nie geheiratet«, ergänzte er, so als könnte er die Frage aus ihrem Schweigen herauslesen. »Genau wie du hatte ich eine Mutter und einen Vater. Und einen Großvater, der mir besonders nahestand. Es ist schon so lange her und trotzdem erinnere ich mich an jede Einzelheit.«
    Es wurde um sie herum heller und Isobel bemerkte die Köpfe der Straßenlaternen mit ihrem warmen, vielversprechenden Lichtschein. Sie waren in den hinteren Teil ihres Wohnviertels eingebogen.
    »Du vermisst sie sicher«, hörte sie sich sagen.
    Reynolds seufzte. »Manchmal befürchte ich, dass ich sie nie vergessen werde.«
    »Warum solltest du sie vergessen wollen?«
    Zunächst gab er ihr keine Antwort. Der Mond verschwand wieder hinter der Krempe seines Hutes und das Leuchten der Sterne nahm ab, während der Schein der Straßenlaternen und der Lampen an den Häusern um sie herum heller wurde. Isobel drehte den Kopf, bis sie den Umriss ihres Hauses sehen konnte, der immer näher kam. Die Fenster waren dunkel und die Jalousien heruntergezogen. Drinnen schliefen sicher alle.
    Bonbonpapiere und verstreute Blätter

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