Neville, Katherine - Der magische Zirkel
Europa mit Wolfgang Hauser zu erreichen. Ich zwang mich, das Paket anzusehen. Der Poststempel stammte aus San Francisco, wie auf dem gelben Abholschein, den ich im Schnee gefunden hatte. Und diesmal bestand kein Irrtum: Die Handschrift auf dem Umschlag war die von Sam.
Timeo Danaos et dona ferentes. (Ich fürchte die Danaer, selbst wenn sie Geschenke bringen.)
V ERGIL , Aeneis
Die Gefahr [für Geber und Nehmer ist] nirgends besser zu erahnen als in den sehr alten germanischen Gesetzen und Sprachen. Das erklärt die Doppelbedeutung des germanischen Wortes giftiz: Einmal ist es etwas Gegebenes oder Empfangenes, ein andermal ein Gift.
Die tödliche Gabe, das Geschenk oder die besondere Eigenschaft, die sich in Gift verwandelt, ist ein Grundthema in den germanischen Sagen. Das Rheingold ist tödlich für den, der es erobert; Hagens Becher ist tödlich für den Helden, der daraus trinkt. Tausend Abenteuer- und Liebesgeschichten dieser Art, germanische und keltische, prägen noch heute unsere Gefühlswelt.
M ARCEL M AUSS , The Gift
Ich rannte aus dem Postgebäude, stieg in den Wagen und fuhr in halsbrecherischem Tempo zum Flughafen, parkte, lud mein Gepäck aus und schlitterte über den eisglatten Asphalt. Im Gebäude reckte ich verzweifelt den Kopf, um die zwei Abflugbereiche zu überblicken. Am anderen Ende, bei Gate B, sah ich Wolfgang, der mit beiden Armen fuchtelnd eine hitzige Debatte mit einem Mann vom Bodenpersonal führte.
«Gott sei Dank», sagte Wolfgang erleichtert, als ich bei ihm anlangte; aber man sah, daß er wütend war. Er wandte sich rasch an den Flughafenangestellten: «Sind wir zu spät?»
«Eine Sekunde», sagte der Mann und griff zum Telefon, um im Cockpit anzurufen, während mich Wolfgang finster musterte. Der Mann drehte sich zu Wolfgang um und nickte. «Die Gangways sind noch draußen. Also beeilen Sie sich. Wir haben schließlich einen Flugplan.»
Er schob unsere Taschen durch die Gepäckkontrolle und entwertete unsere Tickets. Wir hasteten über das Flugfeld und die Gangway hinauf und waren kaum angeschnallt, als sich die Maschine in Bewegung setzte.
«Ich hoffe, du hast eine gute Ausrede», sagte Wolfgang, während wir zur Startbahn rollten. «In den nächsten drei Stunden hätte es keinen weiteren Flug nach Salt Lake City gegeben, und wir hätten sämtliche Anschlußflüge verpaßt.»
Ich war von der Rennerei noch so außer Atem, daß ich kaum sprechen konnte. «Ich… ich mußte unterwegs noch etwas erledigen», stieß ich hervor.
«Noch etwas erledigen? Heute morgen?» sagte Wolfgang ungläubig und wollte noch mehr sagen, aber dann begannen die Triebwerke zu dröhnen, so daß ich ihn nicht mehr verstand. Verärgert wandte er sich ab und nahm etliche Papiere aus seinem Aktenkoffer, in die er sich vertiefte, während das Flugzeug über die Runway raste und abhob. Wir sprachen nicht mehr während des vierzig Minuten dauernden Flugs bis Salt Lake City, der ruhig, aber unter ohrenbetäubendem Lärm verlief. Mir konnte das nur recht sein, denn ich hatte über eine Menge nachzudenken.
Es bestand kein Zweifel, daß das Paket, das jetzt in meiner Umhängetasche unter meinem Sitz lag, das Geschenk meiner Großmutter Pandora an meinen Onkel Earnest enthielt, das anschließend Sam geerbt hatte – ein so gefährliches Geschenk, das nicht nur einige von Sanis Kollegen, sondern vielleicht auch Pandora und Earnest das Leben gekostet hatte und das um ein Haar auch für Sam tödlich geworden wäre. Jetzt hatte ich es bekommen.
Weil ich inzwischen weder Freunden, Kollegen noch den meisten Familienmitgliedern hinsichtlich dieses tückischen Pakets traute, zögerte ich verständlicherweise, es vor den Augen mehrerer Postkunden bei George hinter dem Postschalter zu lassen. In der kurzen Zeit, die mir für den Weg zum Flughafen geblieben war, konnte ich kein sicheres Versteck mehr finden, und nun saß ich da und wußte nicht, was ich mit meiner tödlichen Erbschaft tun sollte. Bei der Einreise in die UdSSR würde das Paket bestimmt gründlich untersucht und wahrscheinlich konfisziert werden. Dadurch könnte die Gefahr für alle Betroffenen und besonders für mich noch größer werden. Folglich war mein erster Gedanke, das Paket zu vernichten.
Ich hatte an verschiedene Methoden gedacht für den Fall, daß ich es schnell loswerden müßte. Aber bis wir Salt Lake City erreichten, schienen mir die Chancen für eine solche Lösung meines Problems sehr gering, denn ich konnte nicht eintausend Seiten
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