Neville, Katherine - Der magische Zirkel
sich mein Herz gesehnt hat.»
«Aber sie und mein Onkel Laf scheinen zusammenzugehören», sagte ich. «Und sie leben in Wien, ziemlich weit weg von hier.»
«Das ist okay», meinte Olivier. «Die Tage deines Onkels Laf als Skiläufer sind nun vorüber, und wenn er noch so munter fiedelt. Ich bin bereit, dieser Frau auf ewig und wie ein Sklave über alle Pisten zu folgen, nur um sie wedeln zu sehen. Und jetzt, wo du so dicke mit ihrem Bruder bist, kommt sie vielleicht bald wieder, um uns zu besuchen.»
Ich ging nach unten, um etwas Burgunder aus meiner eisernen Reserve mit ein paar Glühweinbeuteln zu erhitzen. Während ich am Herd stand und zusah, wie der Wein heiß wurde, kam mir etwas in den Sinn, das ich fast vergessen hatte.
Ich ging durch das große kalte Wohnzimmer zur Bücherwand und blätterte durch den Band «H» meiner zerfledderten Encyclopedia Britannien, bis ich das gesuchte Stichwort fand. Erstaunt stellte ich fest, daß es tatsächlich schon einmal einen Hauser mit Vornamen Kaspar gegeben hatte. Seine Geschichte war mehr als merkwürdig:
HAUSER, KASPAR
Deutsches Findelkind rätselhafter Herkunft. H. tauchte am
26. Mai 1828 in Nürnberg auf, machte einen verwahrlosten Eindruck, nannte sich Kaspar H. und gab an, er habe, seit er denken könne, in einem dunklen Behältnis gelebt… In einem der bei ihm gefundenen Briefe erklärte ein Handwerker, der Junge sei im Oktober 1812 in seine Obhut gegeben worden; er habe ihn wie vereinbart Lesen und Schreiben und den christlichen Glauben gelehrt, ihn aber bis zu der Zeit, da seine Aufsichtspflicht endete, in strengem Gewahrsam gehalten… In dem anderen Brief [von seiner Mutter] hieß es, er sei am 30. April 1812 geboren, heiße Kaspar und sein Vater, ein Offizier des 6. Königlich Bairischen Kavallerieregiments, sei tot.
Der Junge wies jede Nahrung außer Wasser und Brot zurück und kannte anscheinend nichts von der Außenwelt…
Ferner hieß es in dem Artikel, Kaspar Hauser habe international wissenschaftliches Interesse geweckt, nachdem man erfahren hatte, daß er m einem Käfig aufgewachsen war; und weder seine Familie noch der Mann, der ihn aufzog, seien gefunden worden. Anscheinend hatte es zur damaligen Zeit überall in Deutschland ein enormes Interesse an solchen Dingen gegeben wie Naturkinder, die von wilden Tieren aufgezogen wurden, sowie Tiermagnetismus und ähnliche okkultistische Theorien. Hauser wurde dann bei einem Lehrer in Nürnberg untergebracht.
Am 17. Oktober 1829 fand man ihn mit einer schweren Stirnverletzung, die ihm laut seiner Aussage ein Mann mit geschwärztem Gesicht beigebracht hatte.
Der britische Wissenschaftler Lord Stanhope adoptierte den Jungen und gab ihn in die Obhut eines Ratsherrn in Ansbach, wo er genauer beobachtet werden konnte. Der Fall war in der Öffentlichkeit fast vergessen, als Kaspar Hauser am 14. Dezember 1833 von einem Unbekannten mit einem Messerstich in die linke Brust verletzt wurde und drei oder vier Tage später starb.
Es schien, daß über Kaspar Hauser in den letzten hundertfünfzig Jahren viele Bücher erschienen waren mit den verwegensten Theorien, angefangen von der Ermordung Hausers durch Lord Stanhope bis zu der Behauptung, Kaspar Hauser sei ein legitimer Sohn des Großherzogs Karl von Baden gewesen und aus politischen Gründen beseitigt worden. Die Enzyklopädie ließ wenig Zweifel aufkommen, daß die ganze Geschichte unsinnig war, und bezeichnete die historischen Fakten als «verworren».
Verworren ging es auch in meinem Kopf zu, denn warum hatte Wolfgang K. Hauser, der wie sein Namensvetter aus Nürnberg stammte, seinen zweiten Vornamen ausschließlich auf einen der drei Weisen aus dem Morgenland bezogen, ohne eine historische Figur seines Geburtsorts zu erwähnen, die immerhin so bekannt war, daß sie einen ganzseitigen Eintrag in der Encyclopedia Britannica erhalten hatte. Und paßte der Name Wolfgang – «Der mit den Wölfen geht» – nicht auch irgendwie zum Namen eines Jungen, der wie ein Tier aufwuchs?
Ich blickte auf und sah Jason neben der Tür an meinen Taschen herumschnüffeln. Wenn zwei gepackte Reisetaschen herumstanden, wußte er, daß ich für längere Zeit verreisen würde, und ich fürchtete schon, er würde wie schon einmal, als er merkte, daß er allein hierbleiben mußte, meine Taschen anpinkeln.
«O nein, das läßt du schön bleiben», sagte ich und klemmte ihn mir unter den Arm. Dann nahm ich den blubbernden Glühwein vom Herd und ging nach oben in Oliviers
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