Neville, Katherine - Der magische Zirkel
die Toilette hinunterspülen und ebensowenig auf einem der Flughäfen, die wir in den nächsten 24 Stunden passieren würden, fünf Kilo Papier verbrennen. Außerdem war die Vernichtung keine Garantie für ein ruhigeres Dasein, weil ich keine Ahnung hatte, wer diese Manuskripte haben wollte und warum sie jemand haben wollte. Wie konnte ich signalisieren, daß das begehrte Objekt nicht mehr im Umlauf war? Und wenn es mir gelänge, es aus dem Verkehr zu ziehen, konnte das für Sam vielleicht tödlich werden, weil er als einziger wußte, wo sich die Originale befanden. Ich mußte dieses Paket genauso wie das erste, das ich erhalten hatte, irgendwo verstecken, wo es niemand suchen würde.
Ich wußte, daß man in den Schließfächern am Flughafen in Salt Lake City nicht wie in Hollywoodfilmen einfach seine Beute verstauen konnte, um sie irgendwann abzuholen. Hier funktionierten die Schließfächer mehr wie Parkuhren. Und wenn ich, vorausgesetzt ich hätte die Zeit dazu, die Manuskripte in kleinere Pakete aufteilen und sie an meine Adresse schicken würde, hätte ich das ganze Ding gleich bei George auf der Post lassen können, wo Olivier und mein Boss und wer weiß noch herumschnüffelten. Ich war mit meinem Latein am Ende.
In Salt Lake City entschuldigte ich mich bei dem immer noch verstimmten Wolfgang noch einmal für meine Verspätung. Sobald wir unser großes Gepäck nach Wien eingecheckt hatten, suchte ich den Waschraum auf und öffnete Sams Paket. Ich blickte auf merkwürdige Schnörkel, Buchstaben einer fremden Sprache, die aber deutlich erkennbar von Sams Hand geschrieben waren. Ich stopfte das Paket zwischen meine Arbeitsunterlagen und hängte mir die schwere Tasche über die Schulter. Bevor ich die Lounge verließ, schickte ich ein Fax an Sam: Erhielt dein Geschenk. Geben ist seliger als nehmen. Eine Nachricht, aufgegeben am Flughafen von Salt Lake City, würde Sam überdies sagen, daß ich bereits mit Wolfgang unterwegs war. Ich fügte noch hinzu, daß mir jedes Fax von meinem Büro nachgeschickt würde.
Wolfgang wartete auf mich wie vereinbart vor der Cafeteria. Er hielt zwei dampfende Pappbecher in der Hand.
«Ich dachte, wir trinken unseren Tee lieber am Gate. Da drin ist es einfach zu voll.»
Er wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Cafeteria, die voll besetzt war mit Mormonenmissionaren – alles frisch gewaschene, rotbackige junge Männer in weißen Hemden, dunklen Anzügen und Krawatten, die einheitlichen Rucksäcke vollgepackt mit Lesestoff für die zu Bekehrenden. Sie tranken Eiswasser, während sie auf ihre Flüge warteten. Tag für Tag und jahraus, jahrein flogen solche jungen Missionare wie Löwenzahnsamen über den Globus, um die gute Botschaft direkt aus dem Herzen der Mormonenkirche in Salt Lake City in die Welt hinauszutragen.
«Sie bekehren nicht viele Österreicher», sagte Wolfgang, während wir den Gang zu unserem Gate entlanggingen. «In einem Land, das so katholisch ist, tritt selten jemand zu einem neuen Glauben über. Aber auf Flughäfen sieht man so viele von diesen jungen Männern. Auf mich wirken sie sehr sonderbar.»
«Sie sind nicht sonderbar, nur anders», erklärte ich ihm, während ich den Deckel von meinem Tee nahm und einen Schluck probierte. Er war kochend heiß. «Du hast doch meinen Hausherrn Olivier kennengelernt. Er ist Mormone, oder um genau zu sein, ein Jack-Mormone. So nennen sie diejenigen, die nicht alle Regeln befolgen. Olivier trinkt manchmal Kaffee oder Alkohol, obwohl es verboten ist. Und obwohl er nicht gerade ein Don Juan ist, sagt er, er sei auch nicht Jungfrau geblieben.»
«Jungfrau?» sagte Wolfgang und sah mich mißtrauisch an. «Ist das bei ihnen Brauch?»
«Ich versichere dir, ich bin keine Expertin», sagte ich lachend. «Aber laut Olivier geschieht das mehr oder weniger auf freiwilliger Basis – ich meine, die Reinhaltung von Körper und Seele. Sie scheinen sich auf diese Weise auf die Erlösung in einem zukünftigen Zeitalter des Glücks und des Friedens vorzubereiten.»
«Ein zukünftiges Zeitalter?» sagte Wolfgang. «Das verstehe ich nicht.»
«Es ist eben ihr Weg zur Höherentwicklung des Menschen», sagte ich. «Die Katholiken haben einen eigenen Katechismus, richtig? Nun, die Mormonen richten sich nach dem ihren, und soviel ich verstanden habe, heißt es darin: Das Heute ist der Anfang vom Ende. Die Zeit geht ihrem Ende entgegen. Dies sind die letzten Tage, in denen die Welt, wie wir sie kennen, zu Ende geht. Nur wer sich gereinigt
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