Neville, Katherine - Der magische Zirkel
niemand», wandte Dacian mit einem geheimnisvollen Lächeln ein. «Aber es ist spät geworden, und ich will euch noch einen Nagel in der Schatzkammer der Hofburg zeigen.» Im Licht des Spätnachmittags gingen wir die breite Kärntnerstraße entlang, wo sich scharenweise Touristen tummelten.
«In vielen Kulturen», begann Dacian, «wurde dem Nagel eine heiligende verbindende Eigenschaft zugedacht, die gegensätzliche Reiche zusammenbringt wie Feuer und Wasser, Geist und Materie. Nachdem der Baum in alten Texten häufig als die Weltachse gilt, über die Energie vom Himmel zur Erde geleitet wird, nannte man den Nagel den Stift Gottes, mit dem er diese Energie verankert. Im Hebräischen enthält sogar der Name Gottes einen Nagel. ‹Jahwe› wird auf hebräisch nur mit vier Buchstaben geschrieben – JHVH –, und der Buchstabe ‹V› bedeutet Nagel. Und Stock bedeutet im Deutschen nicht nur Baumstumpf, Stamm, Stab, Knüppel oder Krücke, sondern steht als Kurzform auch für strauchartige Pflanzen wie Rosen, für Stockwerk oder Etage und für Bienenstock. Und Bienen assoziiert man mit hohlen Bäumen. Es ist von größter Bedeutung, wie alle diese Dinge zusammenhängen.»
Ich assoziierte Bienen im Augenblick nur mit meinem brummenden Schädel. Wie sollte ich das alles auf die Reihe bringen? Der Zodiak war vielleicht ein Zoo archetypischer Tiere, aber dieses neue Äon, über das wir sprachen, sollte von einem Menschen symbolisiert werden, von Aquarius, dem Wassermann, der einem Fisch Wasser ins Maul gießt. Obwohl das gut zu den Schöpflöffeln alias Großer und Kleiner Bär paßte, behauptete Dacian, es gäbe efwas, das alles miteinander verbinden würde – den rotierenden Himmel, die Bäume und Nägel, das fließende Wasser, die Bären – und vielleicht sogar Orion, den mächtigen Jäger. Dann glaubte ich, den Zusammenhang zu sehen.
«Die Göttin Diana», sagte ich, «oder Artemis, wie sie bei den Griechen heißt, wurde mit den Schöpflöffeln – will sagen, dem Großen und Kleinen Bären – gleichgesetzt die sich um den Himmelspol drehen, das heißt mit der Achse. Sie war auch die Mondgöttin – so wie ihr Bruder Apollon Phoebus war, der Gott des Sonnenlichts. Sie war eine jungfräuliche Jägerin, die nachts mit ihrer Meute durch die Wälder stürmte. In frühen Religionen entstand durch die Jagd und den Verzehr eines Tiers eine Einheit mit dem Tier. Deshalb war Artemis die Herrin aller Totemtiere. Und noch heute herrscht sie am Himmel, wie ihr Name besagt: arktos gleich Bär; themis gleich Gesetz.»
«Nicht nur ‹Gesetz›», wandte Dacian ein, «themis ist ‹die Gerechtigkeit. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Das Orakel von Delphi war themistos, das heißt, es wußte nicht nur, was recht war, sondern konnte auch prophezeien. Es konnte die höhere Gerechtigkeit der Götter übersetzen. Die Jungfrau ist für das eben endende Äon wichtig. Vor zweitausend Jahren, zu Beginn dieses Zeitalters, wurde die jungfräuliche Göttin auf der ganzen Welt verehrt. Die Römer nannten sie Diana der Epheser. Ihr griechischer Tempel in Ephesus, das Artemision, war eines der sieben Weltwunder. Eine Nachbildung der berühmten Statue der Göttin, gegen deren Verehrung der Apostel Paulus so leidenschaftlich wetterte, steht noch heute dort. Ihr Gewand ist mit Tier- und Vogelgestalten bedeckt und auch mit ihren prophetischen Bienen. Es sind diese Göttin in einer neuen Inkarnation und ihr Sohn, der ‹Menschenfischer›, die in dem jetzt zu Ende gehenden Aon die Achse bilden – im Zeitalter der Fische. Das Sternzeic hen, das den Fischen auf dem Tierkreiszeichen genau gegenüberliegt, ist Virgo, die Jungfrau.
Im vergangenen Zweitausendjahrezyklus haben wir während der Tagundnachtgleichen die Sonne vor dem Hintergrund der beiden in diesem Zeitalter herrschenden Sternbilder gesehen: die Fische bei der Frühlings-Tagundnachtgleiche und die Jungfrau im Herbst. So gesehen wird der Charakter des Zeitalters durch den Charakter seiner Herrscher bestimmt. Man könnte es Himmelsmythologie nennen.
Es ist interessant. Wie genau die Legenden aller Völker zu den archetypischen Bildern der neuen Äonen paßten. Das Zeitalter der Zwillinge zum Beispiel war eine historische Periode, die wegen ihrer Legenden von Zwillingen wie Remus und Romulus oder Castor und Pollux berühmt war. Das nächste Zeitalter von Taurus, dem Stier, hatte als Symbolfigur den ägyptischen Stiergott Apis, das Goldene Kalb bei den Juden und den weißen Stier des
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