Neville, Katherine - Der magische Zirkel
und diese Kopien sehen wir heute. Seitdem suchten alle, die an Macht oder Ruhm interessiert waren, nach den Originalen, einschließlich der Windsors während ihres langen Exils und des amerikanischen Generals Patton, der alte Geschichte studiert hatte und persönlich die Nürnberger Burg durchstöberte, als er gegen Ende des Krieges dort hinkam. Aber die Originale waren verschwunden.»
«Sie glauben doch nicht, Hitler habe nach dem Krieg weitergelebt und die heiligen Gegenstände für sich behalten?» fragte Wolfgang.
«Wie du siehst, meine Liebe», sagte Dacian und wandte sich mit einem Lächeln an mich, «es sind allerlei Geschichten im Umlauf. Einige befürworten sogar die Theorie, daß jeder, der mit diesen Gegenständen zusammengebracht wurde, von Hitler bis Jesus, über den Tod hinaus gelebt haben soll. Weil religiöse und politische Bewegungen – die für mich, ich gebe es zu, oft kaum zu unterscheiden sind – weitgehend auf solchen Geschichten beruhen, will ich mich dazu nicht weiter äußern. Ich finde das Thema weder wichtig noch interessant. Interessant dagegen ist, warum Leute wie Hitler oder Patton diese sogenannten heiligen Objekte haben wollten. Diese Frage kann nur ein Mensch beantworten.»
«Sie wollen doch nicht sagen, Sie wüßten, wo die heiligen Objekte sein könnten», sagte Wolfgang. Natürlich hätte mich Dacians Antwort auch interessiert, aber er ging nicht darauf ein.
«Wie ich Ariel schon erklärt habe», antwortete er geduldig, «kommt es bei der Suche auf den Weg an, nicht auf das Ergebnis.»
«Aber wenn die gesuchten Objekte nicht das Ziel sind», sagte Wolfgang verärgert, «was dann?»
Dacian blickte düster vor sich hm und schüttelte den Kopf. «Nicht was», wiederholte er. «Nicht wer, auch nicht wie, wo oder wann, sondern warum: Das ist die Frage. Doch weil Ihnen Fakten so wichtig zu sein scheinen, will ich Ihnen mitteilen, was ich weiß, sobald wir hier fertig sind. Zu diesem Zweck habe ich in der Tat schon Vorbereitungen getroffen.»
Er legte einen Finger unter mein Kinn. «Als ich von Wolfgang hörte, was du bei dir haben könntest, habe ich vom Restaurant aus telefonisch für drei Uhr einen Platz für uns reserviert. Es ist nur eine Minute von hier entfernt. Wir haben den Raum eine Stunde lang ganz für uns allein. Die Geschichte hat eine lange Vorgeschichte und beruht sowohl auf Hörensagen als auch auf einigen Mutmaßungen meinerseits. Ich werde sie erzählen, während ihr beide euch dieser gefährlichen Papiere entledigt – »
«Entledigen!» stieß ich hervor, während ich meine Tasche noch fester umklammerte. Auch Wolfgang wirkte schockiert.
«Meine Liebe, sei vernünftig», sagte Dacian. «Du kannst sie nicht in die Sowjetunion mitnehmen. Der russische Zoll konfisziert alles, was nicht identifiziert werden kann. Und du kannst sie auch nicht auf den Straßen Wiens verstreuen und weder mir noch Wolfgang anvertrauen, weil ich ebenso wie Wolfgang morgen das Land verlassen werde. Deshalb rate ich dir dringend, die einzige Lösung zu wählen, die ich in der kurzen Zeit, die ich zur Verfügung hatte, finden konnte. Versteck die Papiere an einem Ort, wo sie wahrscheinlich niemand in der nächsten Zeit finden wird: Zwischen den Büchern der österreichischen Nationalbibliothek.»
Die zwischen 1723 und 1735 entstandene Nationalbibliothek ist eines der eindrucksvollsten Museen der Welt – nicht wegen ihrer Größe und Pracht, sondern wegen ihrer fast unirdischen Schönheit und ihrer einzigartigen Sammlung seltener Bücher, von Avicenna bis Zeno, die in ihrer Bedeutung nur von der des Vatikans übertroffen wird.
Ich war als Kind nicht oft hier, aber ich erinnerte mich noch lebhaft an die luftig barocke Architektur und die erstaunliche Trompe-l’oeil-Malerei an der Decke des hohen Prunksaals. Aber die wundervollste Überraschung für ein Kind war, daß die Bücherschränke Türen waren, die sich öffnen ließen, und dahinter lagen geheime, ringsum mit Büchern vollgestellte Kabinette mit einem großen Tisch und Stühlen und großen Fenstern, die auf den Hof hinausgingen. Hier konnten sich die Wissenschaftler zurückziehen, um stundenlang ungestört zu arbeiten. Ein solches Kabinett hatte Dacian für uns reservieren lassen.
«Es ist ein guter Plan», versicherte mir Wolfgang, als sich die Büchertür hinter uns schloß. «Mir wäre kurzfristig bestimmt nichts Besseres eingefallen.»
Auch ich fand Dacians Vorschlag inzwischen akzeptabel. Selbst wenn jemand erfahren
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