Neville, Katherine - Der magische Zirkel
hörte, «und mich danach so anlügen, wie du es im Weinberg getan hast? Wer ist dieser verdammte Pater Virgilio, der uns wie ein Gespenst folgt?»
«Vermutlich hast du eine Erklärung verdient», sagte er, während er sich mit der Hand über die Augen fuhr. Dann sah er mich wieder ganz offen an. «Pater Virgilio ist wirklich ein Priester aus Triest. Ich kenne ihn seit Jahren. Er hat für mich gearbeitet, jedoch nicht in der Eigenschaft eines Hausmeisters. Zur Zeit forscht er in dieser Bibliothek. Ich wollte, daß du ihn kennenlernst – aber nicht gestern abend, als ich… andere Dinge im Kopf hatte.» Er lächelte ein bißchen verlegen. «Schließlich ist er Priester.»
«Wozu dann diese ganze Hans-Klaus-Geschichte heute morgen, wenn du gewußt hast, daß wir ihn hier treffen würden?»
«Ich habe mir Sorgen gemacht, nachdem du gestern abend gesagt hast, er käme dir bekannt vor», antwortete Wolfgang. «Als ich mich dann heute früh versprochen habe und du nachgefragt hast, war es bereits zu spät. Wie konnte ich annehmen, daß du ihn wiedererkennst, nachdem du ihn nur kurz im Dunkeln und aus einiger Entfernung gesehen hast?»
Ich hatte erneut dieses déjà-vu- Gefühl. Mir war, als hätte ich diesen Pater Virgilio nicht erst im Weingarten, sondern schon früher gesehen. Aber ich brauchte Wolfgang gar nicht danach zu fragen, denn er sagte:
«Ich kann es dir nicht verübeln, wenn du mich jetzt verachtest. Aber es kam für mich völlig überraschend, als ich erfuhr, ich sollte nicht mit dir und Dacian Bassarides zu Mittag essen. Dieser Mann ist so unberechenbar! Es hätte mich nicht gewundert, wenn er dich weggezaubert und ich dich nie mehr gesehen hätte. Glücklicherweise hatte ich ein Lokal gewählt, wo man mich gut genug kennt, um Virgilio als ‹Aushilfe› zu akzeptieren – um auf dich aufzupassen – »
Das also war es! Kein Wunder, daß er mir auf dem Weinberg bekannt vorkam. Im Cafe Central war ich so auf das Gespräch mit Dacian konzentriert gewesen, daß ich kaum einen Blick für meine Umgebung hatte, aber irgendwie mußte ich die Gestalt wahrgenommen haben, die mindestens ein halbes Dutzend Mal an unseren Tisch gekommen war. Nun fragte ich mich, wieviel von unserem Tischgespräch unser improvisierter Hilfskellner mitgehört hatte. Obwohl mich Wolfgang anscheinend nur vor den Kaprizen meines Großvaters beschützen wollte, verfluchte ich mich, daß ich nicht so wachsam gewesen war, wie mich Sam das meine ganze Kindheit hindurch gelehrt hatte.
Aber ich hatte keine Gelegenheit, lang darüber nachzudenken, denn Pater Virgilio spähte durch die Eingangstür, offensichtlich in der Annahme, der Staub habe sich inzwischen genügend gelegt, um wieder zu uns zurückzukehren. Als Wolfgang ihn an der Tür sah, beugte er sich zu mir und sagte rasch: «Wenn du halb so gut Latein kannst wie Deutsch, dann würde ich die erste Zeile dieser St.-Bernhard-Handschrift nicht vor Virgilio kommentieren. Es könnte ihm peinlich sein.»
Ich warf einen Blick auf das Buch und schüttelte den Kopf. «Was steht da?»
«‹Götthche Liebe wird durch fleischliche Liebe erlangt›», sagte Wolfgang und lächelte verschwörerisch. «Wenn wir später ein bißchen Zeit haben, würde ich das gern ausprobieren…»
Pater Virgilio brachte eine Karte von Europa mit, eine moderne Landkarte, die er auf einem Kartentisch vor uns ausbreitete. «Es ist wichtig zu wissen, daß seit alter Zeit das Totem eines geheimnisvollen Stammes in dieser Region die Bärin war und daß diese Menschen eine beinahe mystische Verehrung für einen Stoff mit vielen alchimistischen Eigenschaften hegten – für Salz.»
Die Bären
Sieben Jahr alt, trug ich schon
Herses Heiligtum beim Fest,
Mit zehn Jahren mahlt ich dann
Opfermehl der Artemis,
Ward im Safrankleid in Brauron
Ihr geweiht beim Bärenfest…
A RISTOPHANES , Lysistrata
Bernard Sorrel – so lautete der Familienname des Heiligen – wurde 1091 geboren. Es war die Zeit, als die Kreuzzüge begannen. Väterlicherseits stammte er aus einer wohlhabenden Adelsfamilie aus der Franche-Comte; seine Vorfahren mütterlicherseits waren die Herzöge von Mont-bard – dem «Bärenberg». Der Familiensitz Fontaine lag zwischen Dijo n im nördlichen Burgund und Troyes in der Champagne, einem Gebiet, wo seit der Römerzeit Wein angebaut wird.
Bernards Vater starb beim ersten Kreuzzug. Als die Mutter ebenfalls starb, während sich Bernard auf einer Schule befand, erlitt der junge Mann einen
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