Neville, Katherine - Der magische Zirkel
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Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben, Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben.
Hast du Begriff von Öd und Einsamkeit?
… Hier diesen Schlüssel nimm…
Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern; Folg ihm hinab: er führt dich zu den Müttern.
J OHANN W OLFGANG VON G OETHE , Faust II
Wer dem Leid mutig begegnet,
den Tod umarmt
und sterbend im Tanz sich dreht –
zu dem kommt die Mutter.
V IVEKANANDA
Meine Großmutter Pandora hatte die Dinge in Bewegung gebracht, als sie den Inhalt jener Kassette unter meinen Familienangehörigen verteilte. Aber jetzt sah es so aus, als wäre sie nicht die einzige, die sich an diesem Spiel beteiligt hatte. Schlagartig ging mir auf, daß es zwei Mütter waren – Pandora und Hermione –, die all jene anderen hervorgebracht hatten, die Pandoras Vermächtnis empfingen.
Was genau wußte ich über Hermione Behn, die Mutter von Zoe, Earnest und Lafcadio? Es spielte kaum eine Rolle, ob das, was ich über sie gehört hatte, der Wahrheit entsprach – ob sie wirklich, wie Laf behauptete, eine arme Waise aus den Niederlanden und später eine reiche südafrikanische Witwe war oder daß sie, wie Wolfgang sagte, die Namensschwester einer Armanenschaft war, dieser geheimen arischen Priesterschaft, die sich um Wotan und die Runen geschart hatte. Bis jetzt war für mich alles an ihr, von Alpha bis Omega, griechisch.
Es war der eine Anhaltspunkt aus all den Meinungen, Mythen und vielleicht auch nur reinen Erfindungen, mit denen ich in den letzten Tagen vollgestopft worden war. Wenn Hermione auf griechisch «Achse» bedeutete und wenn es wirklich eine geographische Verbindung mit der Mytholo gie gab, wie jeder zu glauben schien, dann würde ich die Hermione, nach der ich suchen sollte, wahrscheinlich weder in einem Telefonbuch noch einem Familienalbum noch in einer Geschichte über frühe germanische Stämme finden, sondern auf einer Landkarte.
Als ich mit Wolfgang die Eingangshalle der Bibliothek betrat, sah ich sie sofort: An der Wand gegenüber, unter einer Glasplatte, hing eine von Hand gezeichnete Landkarte von Europa, die in karolingischen Minuskeln beschriftet war.
Eine Tafel neben der Landkarte informierte in deutscher, französischer und englischer Sprache, daß die Karte aus dem 9. Jahrhundert, der Zeit Karls des Großen, stammt und bedeutende religiöse Stätten in ganz Europa zeigt – Kirchen, Schreine und Heiligtümer, die seit Beginn der christlichen Ära errichtet wurden. Ein griechischer Name wie Hermione schien natürlich auf einen Ort in Griechenland hinzuweisen, und schon nach kurzem Suchen hatte ich ihn gefunden.
Hermione war ein Hafen an der Südostküste des Peloponnes. Auf dieser Karte war dort mit einem kleinen Kreuz eine christliche Kirche eingetragen und dazu ein Datum aus dem ersten Jahrhundert. Interessanterweise war Hermione von vier anderen Stätten umringt, die mit dem Sonnengott Apollo gekennzeichnet waren. Also war eine offensicht lich bedeutende heidnische Stätte vielleicht umgewandelt worden, wie es Dacian Bassarides gestern geschildert hatte, und man verehrte jetzt dort die Götter eines neuen Äons. Wenn dies zutraf, waren heilige Stätten des Widderzeitalters durch Stätten des neuen Zeitalters ersetzt worden, das vor zweitausend Jahren gerade heraufdämmerte. Ich dachte an Fische und Menschenfischer; Jungfrau und jungfräuliche Gottesmutter.
Wenn Hermione schon vor Christus auf dem weltumspannenden Netz eine Achse darstellte, mußte e s Verbindungen zu früheren heidnischen Stätten mit Widder- und Stiersymbolen geben. Hermione lag gegenüber von Kreta, wo einst gleichzeitig mit Ägypten die minoische Kultur eine Blütezeit erlebte. Ich zog eine Linie von Hermione nach Kreta, wo einst auf dem Berg Ida der Göttervater Zeus von der Ziege Amaltheia gesäugt wurde, deren Bild er später liebevoll zwischen das Sternbild des Steinbocks setzte. Aber ich wußte, es gab noch einen anderen Gott, dessen Stierkult einen ebenso großen Einfluß auf Kreta ausgeübt hatte: Dionysos.
Als ich, während mir Wolfgang zusah, die Kreta-Hermione-Achse nach Nordwesten verlängerte, fand ich es mehr als interessant, daß sie genau durch das Herz der mächtigsten religiösen Stätte des Altertums verlief, einer Stätte, die sich zwei große Götter teilten. Im Sommer wurde hier Apollo verehrt, und während der langen, dunklen Wintermonate, bis im Frühjahr die Sonne aus dem Land der Toten zurückkehrte, Dionysos. Diese Stätte war natürlich
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