Neville, Katherine - Der magische Zirkel
ganzen Tag nicht zur Arbeit gekommen, und als ich gestern abend um sieben nach Hause kam, stand dein Wagen in der Einfahrt, und das ganze Haus war dunkel und still. Jason und ich haben allein gegessen und uns gefragt, wo du sein könntest.»
Da hatte sich Jason also zwei Abendmahlzeiten verschafft – eine unten und eine aus Oliviers Feinschmeckerküche. Dieser Schlingel. Olivier wartete auf eine Antwort. Ich legte die Finger auf den Verband über meinem pochenden Auge. Dann sah ich Olivier an.
«Ich hoffe, du hast nicht auch das Budget für Freilandhühner und Wildbret vom Bio -Bauern verwettet», sagte ich. Olivier starrte mich offenen Mundes an.
«Du hast doch nicht etwa…?»
«Die Nacht mit Dr. Hauser verbracht? Ganz recht», erwiderte ich. «Aber es ist nichts passiert.»
Bei der Aufmerksamkeit, die Wolfgang Hauser erregte, und in einer Kleinstadt wie dieser würde es sowieso bald jeder wissen.
«Nichts passiert?» Olivier schrie beinahe. Dann knallte er die Tür unseres Büros zu und warf sich in seinen Drehstuhl. «Was soll das nun wieder heißen?»
«Der Mann hat mir das Leben gerettet, Olivier», sagte ich. «Ich war verletzt, wie du siehst, und er hat mich nach Hause gebracht. Ich war bewußtlos, deshalb ist er geblieben…» Ich hielt mir den schmerzenden Kopf.
«Ich glaube, ich brauche eine neue Religion», sagte Olivier und stand auf. «Der Prophet Moroni scheint über das impulsive Verhalten von Frauen nicht viel zu wissen. Ich habe immer den mosaischen Glauben bewundert – schon wegen der Kraft des hebräischen Ausdrucks ‹Oi!›. Von welchem Wort, glaubst du, ist er abgeleitet? Warum tut es so gut, einfach herumzugehen und ‹Oi› zu sagen?»
Olivier ging herum und sagte «Oioioi». Ich fand es an der Zeit, einzugreifen.
«Fahren wir am Wochenende nach Sun Valley?» fragte ich. «Warum wohl arbeite ich jeden Tag bis spät in die Nacht?»
fragte er zurück.
«Wenn Wolfgang Hauser bis dahin wieder zurück ist, kommt er mit», sagte ich. «Schließlich arbeite ich ab Montag mit ihm zusammen – und er ist mein Lebensretter.»
Olivier hob die Augen zur Zimmerdecke. «O mein Prophet! Du hast es wirklich vermasselt.»
Ich hoffte, Olivier würde mit der Bedeutung des Wortes «Oi» bald rüberkommen, denn es klang allmählich wie eine ziemlich gute Beschreibung meines jetzigen Lebens.
Wolfgang hatte mich an diesem Morgen zur Arbeit gefahren, weil ich meinen genähten Arm nur unter Schmerzen bewegen konnte. Ich bat ihn, vor der Post anzuhalten und auf mich zu warten, während ich kurz hineinging. Ich unterschrieb ein Formular, damit George meine Post lagerte. Er sollte mich nur anrufen, wenn ein größeres Paket eintraf. Ich würde dann nach der Arbeit vorbeikommen und es abholen. Eine Erklärung brauchte ich George nicht zu geben. Schließlich war ich hier keine Fremde.
«Ich hoffe, du warst nicht allzu schockiert, von deiner Tante Zoe zu hören», hatte Wolfgang zu mir gesagt, als ich das Omelett aus saurer Sahne und Kaviar verschlang, das er aus dem Sammelsurium in meinem Kühlschrank zusammengerührt hatte. «Deine Tante würde dich sehr gern kennenlernen. Sie ist eine faszinierende Frau mit großem Charme. Sie hat sogar Verständnis dafür, daß sie vom Rest der Familie für das schwarze Schaf gehalten wird.»
Die meisten Details aus Zoes Leben kannte man aus den geschwätzigen Büchern, die sie veröffentlicht hatte – zum Beispiel ihre Karriere als eine der berühmtesten Tänzerinnen Europas oder ihren ebenso legendären Nebenberuf als eine der schillerndsten Halbweltdamen Europas.
Aber bis heute morgen hatte ich nicht gewußt, daß meine Tante Zoe während des Zweiten Weltkriegs Mitglied der französischen Résistance war, geschweige denn, daß sie als Informantin für das Office of Strategie Services, kurz OSS, gearbeitet hatte, jene erste offizielle internationale Spionagegruppe der USA, aus der später die CIA hervorging. Aber ich fragte mich, wieviel davon stimmte.
Auch wenn solche Eskapaden zu unserem Familienstammbaum paßten, hielt ich es für unwahrscheinlich, daß sich eine Organisation wie das OSS – die Codes knackte, Nachrichten entschlüsselte und in einem Metier arbeitete, das Verschwiegenheit voraussetzte – mit einer Tratschnudel wie Tante Zoe einließ. Andererseits konnte ein solcher Ruf auch eine ausgezeichnete Tarnung gewesen sein.
Wenn es stimmte, was zur Zeit über Zoe berichtet wurde, dann saß sie mit ihren dreiundachtzig Jahren quicklebendig in Paris,
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