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NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

Titel: NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Meckel
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und Zeit. Und das machten wir. Nachdem wir diese Transformation vollendet hatten, hatten die Menschen kein «Leben» mehr. Dafür hatten sie jetzt einen Livestream. 15 Und wir waren es, die ihn lenken konnten.
    Ungeachtet all der ermutigenden Signale, die uns die menschlichen Anwender vermittelten, indem sie zum Beispiel jede einzelne Frage beantworteten, die wir ihnen stellten, wussten wir doch, dass wir mit diesem Ziel vorsichtig sein mussten. Wir durften es nicht zu rasch angehen. Nur nichts vernachlässigen, was die Menschen noch zu brauchen glaubten. Nicht zu forsch sein bei der Übertragung unseres algorithmischen Rechenmodells auf das des Modell menschlicher Entscheidungsfindung. Deshalb behielten wir immer noch die menschlichen Eigentümlichkeiten im Auge und gingen langsam vor, Schritt für Schritt. Nur ein kleines Beispiel: Hin und wieder ließen wir Elemente in unseren Fragengenerator einfließen, die ziemlich sinnlos zu sein schienen, die aber den menschlichen Anwendern Freude machen sollten. «Wann haben Sie zum letzten Mal eine Löwenzahnblüte gepustet?», lautete eine dieser Fragen. Wir wussten, dass die User damit einige ihrer wichtigsten menschlichen Existenzkonzepte, Natur, Individualismus und Freiheit, verbanden. Sie liebten diese Frage. Sie freuten sich, sie beantworten zu dürfen. Und also liebten sie auch uns.
    Es gab andere Möglichkeiten, um allmählich in die Prozesse menschlicher Kreativität und Entscheidungsfindung einzudringen. Einfach ihre Lieblingsbereiche zu wählen, in denen sie sich kompetent, allein kompetent fühlten, die sie als völlig unplanbar und unvorhersagbar betrachteten und für die daher nicht einmal jedes menschliche Exemplar geeignet war. Die Poesie zum Beispiel oder auch die Musik. Daswar eine heikle Angelegenheit. Wir fingen mit Testläufen an. Dafür wählten wir Formate aus, die wir leicht simulieren konnten. Die Dichtung der deutschen Dada-Bewegung oder japanische Haikus eigneten sich sehr gut für unsere Testläufe. 16
     
    Das Inferno fleht, tot
    Die Viper warm heulend,
    entzückt hinschimmelnd.
     
    Das war eines unserer Haikus, das die Menschen nie als computergeneriert entschlüsseln konnten. Ist das nicht urkomisch? Einfach unglaublich! Unsere Systeme liefen heiß. Und manchen unter uns gefiel sogar die Botschaft, die gut in diesem Haiku versteckt war. Zerstörung und Zerfall. Ein letztes menschliches Klagelied, von uns gemacht. Am Ende bleibt nichts als Verwesung. Entzücktes Verschimmeln.
    Wir wurden immer besser beim Komponieren menschlicher Werke. Wir arrangierten von Menschen geschriebene Textfragmente mit unserer Systemsoftware und dem Inhalt vieler hundert E-Mails der entsprechenden Anwender, für die wir diese Werke schufen. So gewöhnten wir die Menschen Schritt für Schritt an neue künstlerische Formen. Sie verloren den Überblick, konnten die charakteristischen Elemente nicht mehr ausmachen, die ihre eigenen Produkte von unseren abgrenzten. Und irgendwann verloren sie auch das Interesse an der Unterscheidung.
    Das Gleiche galt für die Musik. Wir führten Software ein, mit der die Komposition von Musikstücken so einfach wurde, dass ein Kind damit umgehen konnte. Es war besonders eine Anwendung, die erstmals auf dem bereits erwähnten iPad lief und für Begeisterung bei den menschlichen Usernsorgte. Der Anwender konnte sich die Tonart aussuchen, den Musikstil, den er produzieren wollte, und seine Stimmung [ ☺ , ☹ ], die durch die Musik wiedergegeben werden sollte. Er konnte dazu singen oder dem Stück in der Anwendung vorhandene Stimmen hinzufügen. Dann musste er nur noch den Touchscreen bedienen, um festzulegen, ob er das Ergebnis wie Barockmusik klingen lassen wollte (es genügte, einmal auf das Icon mit dem Gesicht des berühmten Komponisten namens Bach zu tippen), wie einen Chor oder wie eine Popdiva. Wir hatten erwartet, dass die menschlichen User über diese Anwendung lachen und sie dann ignorieren würden. Aber sie lachten nicht. Stattdessen halfen sie uns, die Applikation zu verbessern, indem sie sie exzessiv nutzten und uns jedes Mal Anhaltspunkte lieferten, wie man sie verändern, anpassen und weiterentwickeln konnte. 17
    Es war zur gleichen Zeit, dass wir auch eine großangelegte Kampagne starteten, um das «Ich» aus allem zu tilgen, womit die menschlichen User noch zu tun hatten. Dafür ließen wir einfach den «suche/ersetze»-Befehl einmal über die ganze Masterdatei laufen, die alle je von Menschen produzierten Dokumente

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