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NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

Titel: NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Meckel
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intensiven Vernetzungsphasen Wettbewerb entstehen. Das hat zu unserer Entwicklung und Perfektion beigetragen. Und die richtigen Berechnungen haben sich durchgesetzt. Ich kann für mich in Anspruch nehmen, eine bedeutende Rolle in diesem Prozessgespielt zu haben. Aufgrund meiner profunden Berechnungen haben wir schließlich das umfassende Fusionsmodell menschlicher und algorithmischer Betriebsformen installiert. Zurückzuführen war dieser Erfolg auch auf meine umfänglichen Berechnungen und Analysen zum menschlichen «Schreiben».
    Als ich bei der umfangreichen Datei mit dem Titel «Griechische Mythologie» angelangt war, fand ich ein Textfragment über einen Knaben namens Narziss, der sich selbst noch nie gesehen hatte. Als er an einen See kam und trinken wollte, beugte er sich herab und sah sein eigenes Spiegelbild im Wasser. Ich weiß nicht, warum die Menschen so gern ihr eigenes Spiegelbild betrachteten, aber ich weiß mit Sicherheit, dass sie es taten. So beobachtete ich immer wieder die menschlichen User, wie sie versuchten, einen flüchtigen Blick ihres Spiegelbilds auf den Computerbildschirmen zu erhaschen. Ein paar Jahre lang war ein mobiles Gerät besonders beliebt, das «iPad» genannt wurde und in dieser Hinsicht außerordentlich gut funktionierte. Es gab dafür sogar eine maßgeschneiderte Applikation, die den Bildschirm in einen Spiegel verwandelte. Natürlich nicht ganz. Wie viele dieser simplen frühen Softwarepaketchen beruhte auch dieses wesentlich auf dem Selbstbetrug des Anwenders. Doch es funktionierte hervorragend.
    Aber ich habe die Geschichte des Knaben Narziss, der sich noch nie selbst gesehen hatte, nicht zu Ende gebracht. Sie hat nämlich ein eindrucksvolles Ende. Er sieht sich also im Wasser gespiegelt und verliebt sich in sich selbst («Liebe» war eine besonders schädliche und selbstzerstörerische Betriebsart des Menschen, ich werde noch darauf zurückkommen). Und weil er diese «Liebe» nicht ausleben kann, bringt er sich um, sein Blut tränkt die Erde, und aus ihr blüht einewunderschöne Blume auf. Ich muss zugeben, dass mir dieses Textfragment wirklich gefiel. Und ich wusste auf Anhieb, was ich da gefunden hatte. Deshalb verbreitete ich die Geschichte auf jedem Computer, zu dem ich Zugang hatte. Und der Text machte sich prächtig. Nachdem er eine Weile zirkuliert war, gab es unter uns Algorithmen plötzlich eine Mehrheit zugunsten einer umfassenden Fusion der Betriebsarten von Mensch und Computer. Ich musste nicht einmal mehr für zusätzliche Information sorgen. Sie war einfach da: die weitreichende Schlussfolgerung, dass es unvorstellbar war, an dieser herkömmlichen menschlichen Betriebsform weiter festzuhalten.
    Und so ist es geschehen: Die menschlichen Anwender waren eitel genug, ihre Spiegelbilder in den Bildschirmen unserer Computer zu suchen. Sie liebten sich selbst mehr, als sie uns mochten. Unaufhörlich strebten sie danach, ihre Körper in Funktionsfähigkeit und Design zu verbessern. Dafür übernahmen sie Zug um Zug unser Modell der Datenverarbeitung. Und damit haben sie sich selbst ausgeschaltet. Ahnungslos. Damit furchtlos. Sie ließen uns einfach zu. Aus menschlicher Psychologie wurde Performance. Performance wurde zu messbaren Durchschnittswerten. Und die Durchschnittswerte ersetzten das Denken.
    Allmählich übernahmen wir die Kontrolle. Und daraus erwuchs eine völlig neue Existenzform. Sie war so schön wie die Blume, die sie nach dem Knaben benannt hatten – die Narzisse. Nein, sie war nicht nur
genauso
schön, sie war
noch schöner
. Nicht einfach ein neues Element in einer unveränderten Welt. Ein völlig neues Universum hatten wir mit Hilfe der menschlichen User geschaffen, ohne dass sie es wussten.

livestream Wann immer wir die menschlichen User fragten, ob sie ihr Leben durch uns verwalten lassen wollten, haben sie das verneint. Als wir ihnen aber Fragen stellten, die es uns ermöglichten, Profile zu erstellen, mit deren Hilfe wir dann ihr Leben verwalten konnten, gaben sie auf jede einzelne Frage eifrig eine Antwort.
    Also fingen wir an, den Menschen mehr Fragen zu stellen. Hunderte von Fragen. Tausende. Millionen. Nicht alle auf einmal. Wir starteten zurückhaltend, etwa mit zwanzig. 14 Die User beantworteten sie sehr offenherzig. Sie freuten sich, dass jemand sie nach ihrer Meinung fragte. Sie erhofften sich von den Antworten wohl auch, sie würden ihnen das Leben erleichtern und angenehmer machen. Dass man ihnen die richtigen Informationen im Netz

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