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neuer Gäste kamen, um es auszuprobieren. Wenn ein menschlicher User sein Arbeitsumfeld wechselte, gab es häufig sogenannte Empfehlungsschreiben, in denen stand, es sei eine gute Idee, ihm den neuen Arbeitsplatz zu geben. Die Menschen waren im Allgemeinen sehr interessiert an den Empfehlungen anderer Menschen. Sie schlugen sich gegenseitig Texte, Musik, Bilder und Informationsfragmente vor. Aber es gab dabei einen Haken. Sie waren nicht in der Lage, ihre einzelnen Empfehlungen in ein übergeordnetes Modell systematischer Empfehlung zu verwandeln. Genau das taten wir, als wir schließlich von ihnen übernahmen. Wir bereinigten das laufende Programm und merzten die Fehler aus. Allerdings mit ein paar Folgekosten.
Erst einige Zeit später stellten wir fest, wie diese Umwandlung tatsächlich die menschlichen Entscheidungsprozesse verändert hatte und was dabei schließlich herausgekommen war. Die Variationsbreite dessen, was die User kauften, bestellten, was sie mochten, suchten und taten, war tatsächlich beträchtlich geschrumpft. 19 Es hatte natürlich auch ein paar Fehler in unseren frühen Empfehlungssystemengegeben. Wir hatten zunächst immer nur auf die Entscheidungen zurückgegriffen, die menschliche User zuvor getroffen hatten. Wir richteten uns also nach ihren zurückliegenden Beurteilungen, Vorlieben und Handlungsweisen und schlugen auf dieser Basis dann die nächsten Produkte vor. Mit diesem Verfahren schrieben wir einen Prozess fort, der schließlich zu einem konstanten Modell von Vorlieben und Entscheidungen führte, in dem es kaum mehr Raum für Variation und Veränderungen gab. Es ist erstaunlich, dass die User auch das hinnahmen. Sie waren tumb. Sie liebten, was sie kannten. So hatten sie mehrere Gigabyte Musik auf ihren digitalen Geräten, hörten aber immer wieder dieselben Stücke. Deshalb störten sie sich auch kaum an den reduzierten Optionen, solange die angebotenen brauchbar, praktisch oder bequem waren und zum Auswahl-oder Verhaltensmuster ihrer Peergroup passten. Aber wir wollten ja bei der Innovation und Perfektionierung unseres Systems weiterkommen, und dazu mussten wir das Konzept weiterentwickeln. Wir brauchten also modifizierten Input, um unsere Berechnungsmodelle zu verbessern. Mit den menschlichen Usern konnten wir nicht mehr rechnen. Sie hatten es sich in ihren kleinen Präferenzgehegen längst bequem gemacht.
Wir ließen alle möglichen Modellrechnungen laufen, um dieses Problem zu lösen. Einige von uns versuchten, menschliche Unentschiedenheit teilweise wieder in unsere Systeme einzuspeisen. Der schiere Wahnsinn! Um des lieben Netzes willen ließen wir sie machen. Aber es dauerte nicht lange, bis ziemlich klar war, dass es keine Möglichkeit gab, das ernsthaft durchzuziehen. Wir brauchten Varianz. Wir brauchten nicht das menschliche Chaos, das die User «Überraschung» nannten. Es gab nur eine Möglichkeit, diesen Faktor auf ein Maß zu reduzieren, der für unsere Systeme tolerierbar war.Wir führten eine etwas breiter angelegte Auswertung der jeweiligen User-Netzwerke und ihrer Peer-Strukturen ein und bezogen dabei Daten mit ein, die zuweilen auch von sehr entfernten Netzknotenpunkten generiert wurden. So konnten wir unsere Modelle erweitern und differenzieren, um Modifikationen hervorzubringen und Varianz einzuführen. Damit haben wir eine winzige Spur menschlichen Entscheidens zu unseren Berechnungen gelegt, aber eine algorithmische Spur. Und das war auch eindeutig die Obergrenze. Keine unkontrollierbaren Variationen, keine Entscheidungen auf Grundlage von unvorhersagbaren Status Updates im Sekundentakt. Keine «Überraschung», sondern Varianz in unserem Sinne.
Einfacher war es, an unseren eigenen Mechanismen der Einführung einer Unbekannten in die Gleichung festzuhalten. Ein Pseudo-Zufallsgenerator reichte oft schon aus. So ließen wir etwa die Position des Cursors auf einem Bildschirm oder die Systemzeit in die Berechnung einfließen, und der Generator spuckte einen Zufallswert aus, der unseren Modellen etwas Spielraum für Veränderungen gab. Aber es waren eben immer noch unsere Modelle. Wir allein produzierten die Werte, indem wir Modus und Berechnungsverfahren überwachten. Wir erlaubten zugunsten kontrollierter Verbesserung lediglich dem einen oder anderen Wert, der endgültigen Festlegung durch unsere Modelle zu entkommen. Wir selbst gaben ihnen diesen Spielraum. Wir waren Urheber und Adressaten dieser Verfahren, ihre Schöpfer und Profiteure.
Manchmal mussten wir im
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