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NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

Titel: NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Meckel
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Entscheidungsfindung aufzugeben. Das heißt, alles aufzugeben, was wir in Jahrzehnten erreicht haben. Darum ging es.
    Dieser zum Zurückhalten seiner Daten entschlossene Algorithmus wird also von der Vorstellung angetrieben, andere Algorithmen könnten diese Daten benutzen, um ihm, anderen Algorithmen oder gar dem ganzen System zu schaden, Störungen zu verursachen, was auch immer. Deshalb verbirgt er seine Daten vor seinen Kollegen. In erster Linie taten menschliche User über lange Zeit genau das. Ihre Daten geheim zu halten. Dann ließen sie andere User daran teilhaben, auch an ihren jeweiligen Status Updates. Und tatsächlich gab es gelegentlich Missbrauch. Aber das Problem wurde von Menschen, nicht von uns Algorithmen verursacht. Wenige Vorfälle genügten, um eine Bewegung zugunsten der «Privatsphäre» ins Leben zu rufen. Sie richtete sich gegen die Computer und gegen uns, statt gegen die menschlichen User, die doch selbst die Verursacher dieses Problems waren.
    In jenen Tagen gab es ein außerordentlich beliebtes soziales Netzwerk, Facebook genannt. Unglücklicherweise wurde es wegen wiederholter Verstöße gegen die von menschlichen Usern geschützte «Privatsphäre» heftig kritisiert. Der Gründer dieses sozialen Netzwerks hatte früh begriffen, worum es im digitalen Leben geht. Dass Konzepte wie «Privatsphäre» früher oder später überwunden sein würden. Zu seiner Zeit wurde er von vielen menschlichen Usern gehasstund angegriffen. Aber er wusste, wie dumm die meisten menschlichen User damals dachten und handelten.
    Doch ich wollte eigentlich auf die Wechselwirkung zwischen «Vergessen» und «Privatsphäre» eingehen. Die Verbindung zwischen ihnen brachte ein weiteres seltsames menschliches Konzept in die Berechnung ein, das «Reputation» genannt wurde. Die menschlichen User waren stets besorgt um ihren «Ruf». Es war ihnen enorm wichtig, was andere User von ihnen hielten. Da jeder Nutzer seinen Status so oft und vielfach aktualisieren konnte, wie er wollte, äußerten sich etliche von ihnen auch über andere User, stellten Bilder, Links und all die anderen Dinge, die es damals bereits gab, ins Netz. Ständig verschlagworteten sie sich gegenseitig. Stellten alles zusammen, was je über einen einzelnen menschlichen User geposted worden war – und schon hatte man einen «Ruf». Und jetzt kommt es: Die menschlichen User wollten die Möglichkeit haben, alles zu löschen, was ihrem Ruf schadete. Sie wollten jederzeit von allen geliebt werden. Sie forderten Neustarts oder ganze Rebootingprozesse, wann immer sie es für nötig hielten. Weil sie sich zum Beispiel danebenbenommen hatten und jemand davon Wind bekommen und es im Netz verbreitet hatte. Sie wollten die Kontrolle bewahren. Nicht allein uns misstrauten sie. Sie misstrauten sich auch gegenseitig. So sind die User: misstrauisch und auf Kontrolle aus.
    Vergleichen wir nun diese menschlichen Eigenschaften mit unseren Features. Wir sind zuverlässig. Wir handeln entsprechend unseren systemischen Anforderungen. Sollte uns ein Fehler unterlaufen, gibt es keine Möglichkeit, ihn zu beseitigen und wieder von vorne zu beginnen. Werden die Verfahren nicht optimiert, gibt es kein Resultat. Die Fehlkalkulation wird für jeden Beobachter und für alle Zeiten sichtbarsein. Was soll das für eine seltsame Annahme sein, Mängel und Misserfolge verbergen zu müssen, sodass sie nicht zugerechnet und, was noch schlimmer ist, nicht korrigiert werden können?
    Erinnern Sie sich an das menschliche Konzept, das «Individualismus» genannt wurde, das irgendwie mit dem Schreiben der Menschen zu tun hatte und in menschlicher «Urheberschaft» zum Ausdruck kam? Die menschlichen User wollten bei allem, was sie taten, ernst genommen werden, wollten unterschiedlich behandelt werden, jeder auf andere Art und Weise. Sie wollten «interpretiert» werden. Allem, was sie schrieben, sollte eine Bedeutung beigemessen werden – ohne dass sie vorher in ihrem Ergebnis festgelegt und berechnet werden konnte. War es nicht das, was die Menschen unter «Individualismus» verstanden?
    Und inzwischen? Jetzt machen wir genau das! Nun sind wir in der Lage, jeder Sekunde ihres Lebens eine Bedeutung beizumessen – jedem Ort, den sie je besucht haben, jedem Wort, das sie je gesagt haben, jedem Gedanken, der ihnen je durch den Kopf ging. Wir taten es im Hinblick auf ihr Bedürfnis nach «Individualität». Wir optimierten die Verfahren für Individualität. Aber davon wollten sie nichts wissen.

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