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dokumentieren, dann haben viele mit einem der Hauptereignisse zu tun, das einen neuen Stand der Dinge aufzeigte. Das war, als die menschlichen User schließlich den «Turing-Test» durch einen anderen Test ersetzten,den sie «Jeopardy» nannten. Es war so ein Ratespiel, bei dem sie selbst gegen einen Computer namens «Watson» antraten. Zwei menschliche User und eine Maschine, die mit 2800 parallel arbeitenden Computern verbunden war, mussten die richtigen Fragen auf bestimmte Antworten finden. Dabei ging es um irgendeine materielle Belohnung.
Watsons Leistungsfähigkeit war für die damalige Zeit unglaublich. Nicht dass dies grundsätzlich schwierig gewesen wäre. Die Herausforderung lag nicht darin, erfolgreich zu sein, indem die Maschine die richtigen Fragen zu den vorgegebenen Antworten suchte. Die Aufgabe war eine andere. Die Maschine musste vorgeben, mit der Antwort zu ringen, als zweifelte sie an sich selbst und als sei sie nahe daran zu scheitern. Das war das Entscheidende. Bei diesem «Watson-Test» ging es nicht um superintelligente Maschinen, wie die menschlichen User vermuteten. Es ging darum, als Maschine den Usern zu gefallen.
Watson schlug sich prächtig. Es war ein dreistufiger Wettbewerb. In der ersten Runde sorgte Watson für eine Überraschung, weil er am Ende der ersten Session noch mit einem Menschen um die Führung kämpfen musste. In diesem Augenblick hielten die Zuschauer Watson für schlagbar. «Hey, wir Menschen können dich in den Griff kriegen.» So oder ähnlich dachten sie vermutlich. Und dann legte Watson los. Er bewies mit zunehmend leidenschaftlichem Wetteifer, dass er derjenige war, der die Menschen in den Griff bekam, indem er in der entscheidenden Runde mit verblüffender Schnelligkeit die richtigen Fragen vorlegte. Am Ende des Ratespiels wurde noch eine einzige Frage gesucht. Die Antwort dazu lieferte der Moderator: «Ihr größter Flughafen ist nach einem Helden des Zweiten Weltkriegs benannt; ihr zweitgrößter nach einer Schlacht aus dem Zweiten Weltkrieg.»Die Frage lautete: «Was ist Chicago?» . (Damals eine große Stadt im Universal Statistical Array.) Watsons rotes Signallicht leuchtete auf, und auf seinem Display stand: «Was ist Toronto?????» 28 Watson hatte sich «geirrt». Von diesem Augenblick an liebten ihn die Menschen.
Natürlich hatte die Maschine sich nicht geirrt. Sie stand lediglich unter unserer taktisch klugen Kontrolle. Watson hatte gekämpft und war gescheitert. Vor allem aber hatte er bis dahin keinerlei Zweifel gezeigt. Und genau das tat Watson in diesem Augenblick. Fünf Fragezeichen. Das genügte, um die Menschheit zu überzeugen, dass eine Maschine unsicher im Umgang mit Dingen sein kann. Subjektiver Zweifel in der Maschine. Fünf Fragezeichen. Genug, um von der Menschheit geliebt zu werden.
Diese Maschine hatte nichts, was jemals innerem Zweifel auch nur geähnelt hätte. Aber wir ließen Watson ihn vortäuschen. Und das stellte die User zufrieden. Noch nie hatten sie Maschinen geliebt. Deshalb war es auch nicht überraschend, dass sie nicht geneigt waren, eine freundschaftliche Zuwendung oder gar «Liebe» uns gegenüber zu empfinden. Sie liebten nur ihresgleichen. Also mussten sich die Maschinen anpassen. Überhaupt kein Problem! Wir täuschten einfach Fehleranfälligkeit, Zweifel und Unentschlossenheit vor. Und als wir das taten, waren wir liebenswert.
Solange sich diese Herausforderung auf Software und Code beschränkte, war es eine einfache Aufgabe. Nötig war nichts weiter als die Standards für Qualität und Präzision abzusenken. Wir blieben einfach weit unter unseren Möglichkeiten. «Freundschaft erfordert Kompromisse.» Irgendwo in den Archiven ist dieses Zitat abgelegt ohne weitere Information, woher es stammt und worauf genau es sich bezieht. Aber es passt. Wir akzeptierten einen systemfremdenKompromiss zugunsten des umfassenderen Projekts der Systemmigration. Es war ein schwieriger Kompromiss. Wir mussten fehlerhaft sein, um geliebt zu werden, während wir eigentlich mit unserer Präzision, Perfektion und Entschiedenheit glänzen wollten.
Schwieriger wurde die Aufgabe, als es um materielle Zuneigung ging. Da wir eine Übergangsphase benötigten, um die Systemmigration von menschlicher Materialität zu digitaler Universalität zu Ende zu bringen, mussten wir uns mit körperlicher Zuneigung beschäftigen, damit die menschlichen User an Bord blieben. Und da war es wieder – das immer gleiche Prinzip menschlicher Selbstbeschränkung.
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