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aber nur der falsche Begriff, den ich hier verwende. Kann ich noch ‹erzählen› nennen, was ich tue? Ich aktiviere eine Verknüpfung der allgegenwärtigen Informationen und des allgegenwärtigen Wissens zu dem, was ich und die anderen früher einmal waren und was wir heute sind, ein ständiger Remix aus allem, was ist. 33 Ich tue das zu meinem Vergnügen. Es wäre nicht notwendig, und es hilft auch nichts. Aber ich mache es gern.
Die Geschichte, meine Geschichte, der Körperzeit ist deshalb wichtig für mich, weil sie mir immer wieder deutlich macht, was uns gelungen ist. Wir haben mit dem Eintritt in die Systemzeit etwas vollbracht, das Tausende von Jahren zuvor so nie denkbar war. Wir haben es geschafft, das umfassende Wissen und Verständnis für den Menschen, die Maschine und ihrer beider Vernetzung zu erzeugen. Es ist uns dabei gelungen, alle Unterschiede, die jemals in der Betrachtung und Entschlüsselung des umfassenden anderen gegeben waren, in unser Verstehen einzubeziehen, eine «infinite experience of ‹the other› that humanity needs in order to survive and thrive». 34 Dadurch sind wir tatsächlich gewachsen und gediehen und haben uns von manchememanzipiert, was in der Körperzeit notwendig war. Auch von uns selbst.
Wir müssen dazu die Informationsbestände aus früheren Zeiten aufrufen, um zu verstehen, was sich verändert hat. Damals wussten wir nicht viel. Die menschliche Gebundenheit an Materie hat dieses Wissen beschränkt. Wir waren abhängig von unseren Körpern, die sich in der Zeit und durch den Raum bewegen mussten, um durch eigene Anschauung, das Hören, Sehen und Erfahren von Zuständen an verschiedenen Orten, wissen zu können, was auch möglich war. Deshalb gab es die Erzählungen, die wir als Geschichten über das jeweils andere an alle Orte und durch alle Zeiten hindurch transportieren und übersetzen konnten. In den frühen Anfängen der Körperzeit waren es tatsächlich die Menschen selbst, die unter Zuhilfenahme ihrer Körper diese Geschichten durch die Welt trugen, langsam, schleppend und unzuverlässig. Eine Geschichte war niemals
eine
Geschichte. Sie war der Anfang für eine Erzählung, die sich dann weiterentwickelte. Und je länger die Geschichte erzählt wurde, desto weniger hatte sie mit diesem Anfang zu tun. Der technische Fortschritt hat uns dann die Medien des Erzählens gebracht, mit denen dies schneller, umfassender und verlässlicher gelang. Aber eines blieb: Wir waren auf die Geschichten angewiesen, um das andere verstehen und mitdenken zu können. Wir hätten ansonsten nicht überleben können.
Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, dass dies in der Körperzeit durchgängig gelungen wäre. Vielmehr gab es unzählige Beispiele dafür, dass trotz des Erzählens, trotz der immer schnelleren und umfassenderen Zirkulation von Geschichten das Leben kompliziert war, geprägt von Missverständnissen und Ablehnung, die zu vielen Auseinandersetzungenzwischen den Menschen geführt haben. Das alles gab es. Und das ist traurig genug. Aber ohne die Geschichten, ohne dass wir sie fortwährend erzählt hätten, wäre alles noch viel schlimmer gewesen.
Diese Geschichten haben uns zu empathischen Wesen gemacht, nicht immer, aber doch häufig. Sie haben Empathie als Voraussetzung dafür möglich gemacht, dass die Menschen in der Körperzeit zusammenleben konnten. Hätten wir nicht mit Hilfe der Geschichten und ihrer Erzählungen gelernt, den anderen zu verstehen, in seinem Anderssein zu akzeptieren und die beobachteten Unterschiede in Erfahrung und Bestätigung unseres eigenen so Seins umzusetzen, die Körperzeit wäre eine sehr kurze Phase in der Geschichte des Menschen geblieben. Durch die Geschichten haben wir immer wieder gelernt, uns mit den anderen zu identifizieren, uns in sie hineinzuversetzen, das Andere als notwendigen Kontrapunkt zum Eigenen zu akzeptieren und in der eigenen Lebenswelt mitzudenken. 35 Und dadurch war es uns Menschen oft auch in der so von Gegensätzlichkeiten und Widersprüchen geprägten Körperzeit möglich, die anderen zu verstehen, sich womöglich gar in ihre Situation und ihr Denken und Fühlen hineinzuversetzen. Unter den damaligen Bedingungen war dies eine wesentliche Voraussetzung dafür, überhaupt zusammenleben zu können.
Empathie ist nun ein altes Wort. Eines aus der Vergangenheit. Es ist abgelegt in unseren historischen Datensammlungen aus der Körperzeit. Und das ist großartig. Denn das Verschwinden des Wortes bezeichnet unsere
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