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NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

Titel: NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Meckel
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Videos oder sonstigen Files festgehalten war, forderte eine wachsende Gruppe von Internetaktivisten und Vertretern eines Rechts auf Persönlichkeitsschutz, man müsse Dateien mit Verfallsdaten versehen. 28 So wie viele Lebensmittel, die wir damals noch nutzten, nach einer gewissen Zeit nicht mehr verwendbar waren, ohne im menschlichen Körper womöglich Schaden anzurichten, so sollte Daten eine Laufzeit zugewiesen werden, nach deren Ablauf sie nicht mehr zur Nutzung geeignet waren und sich selbst zerstören sollten, bevor sie für die Person, der sie zuzuordnen waren, Schaden anrichten konnten. Technisch war das nicht kompliziert, aber die dahinterliegenden Ideen sind es wert, erwähnt zu werden. Es ging letztlich darum, den Menschen eine «Reputationsinsolvenz» zu ermöglichen. Sie sollten nach begangenen und im Internet dokumentierten Fehltritten oder Problemphasen die Chance haben, wieder neu zu beginnen. 29
    Das war die harmlosere Variante. Eine weitergehende Idee richtete sich darauf, einen Menschen «Websuicide» begehen und ganz und gar aus dem Netz aussteigen zu lassen. 30 Damals haben wir nicht verstanden, was dieser Vorschlag bedeutete. Inzwischen wissen wir: Es gibt keine Unterscheidung zwischen dem realen und dem Netzleben. Was nicht im Netz ist, ist nicht. Der «Websuicide» setzt allem ein Ende. Wer nicht im Netz ist, der ist nicht mehr.
    Der harmlosere Vorschlag, Daten doch einfach mit einem Verfallsdatum zu versehen, war letztlich der Versuch, die Daten denselben Existenzbedingungen zu unterwerfen, denen menschliche Erfahrung und Erinnerung unterworfenwaren. Ich denke, ich muss erklären, warum diese Idee eine Zeitlang so populär war. Das wird nur verständlich, wenn wir uns in die Zeiten unserer singulären körperlichen Begrenzungen zurückversetzen. Es war uns damals nicht möglich, alles auf immer zu speichern und zu erinnern. Deshalb lebten die Menschen mit dem Vergessen, und das war ganz normal für sie. Gerade muss ich wieder an Martin Lampe denken.
    Natürlich haben wir aus unserer Not immer eine Tugend gemacht. Wir hatten ja eine übergeordnete Begründung, warum das Vergessen richtig und hilfreich war und weswegen Daten auch im Digitalen nach einiger Zeit dem Vergessen anheimfallen sollten. Wir nahmen für uns in Anspruch, dass wir unvollkommene Wesen waren. Und längst habe ich genügend Beispiele angeführt, die belegen, dass dies in der Tat so war. Unvollkommenheit und Fehleranfälligkeit mussten für ein geordnetes soziales Leben der Menschen miteinander eingerechnet werden. Daher war Vergessen notwendig. Nur die Erlösung vom Fehltritt nach einer Zeit der Scham und Schande machte die Rückkehr in die Gemeinschaft möglich. Wir haben dies nicht nur zur Grundlage unseres Erinnerns und zu unserer Regel des Zusammenlebens gemacht, zum Beispiel bei der Verjährung von Straftaten. Wir haben sogar eine Ebene darüber angesetzt. Wer wollte, glaubte an das, was nach dem körperlichen Leben kam. Und dieser Glaube war sehr oft von der Erwartung oder Hoffnung getrieben, eine Art irdische Insolvenz, eine Neuformatierung, würde dazu gereichen, in einen Zustand der Erlösung und des Neuanfangs überzutreten. Ich erinnere mich, dass Erinnern manchmal schrecklich war. Nicht an alles wollte man sich erinnern oder erinnert werden. An manches dagegen so sehr, dass wir es uns zu Körperzeiten in den Teil unserer selbsteinschreiben ließen, der uns für das Erinnern am beständigsten schien. Unseren Körper. Wir haben uns das Unvergessbare in die Haut geritzt, eintätowiert. Den Namen eines geliebten Menschen, das Zeichen einer unbegrenzten Zugehörigkeit zu einer Idee oder einem Glauben, ganze Verse aus Werken, mit denen wir uns und unser Leben verbunden glaubten. Die Haut, auf der all das stand, ist verwest und aus der Welt verschwunden. Die Erinnerung daran ist geblieben. Als Datenbestand auf der unendlichen virtuellen Fläche von Verzweigungen unserer Netzexistenz.
    Es gab auch immer den Wunsch, die Beschränkungen des Vergessens, des endlichen Erinnerns, zu überwinden. Wir haben schnell verstanden, dass die digitale Welt uns einen Weg dorthin eröffnen konnte. In verlässlicher Folge entstanden die Manifeste zur Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten: «The coming world of Total Recall will be as dramatic a change in the coming generation as the digital age has been for the present generation. […] It will, I believe, change what it means to be human.» 31 Sie haben recht behalten. Das

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