NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)
Digitale hat den Menschen von sich selbst emanzipiert. Auf andere Art als erwartet, aber deshalb nicht minder konsequent.
Das alles kommt mir sehr lange her vor, wie aus einer anderen Welt. Und so war es ja auch. Damals war es noch bedeutsam, dass wir zwischen früher, jetzt und zukünftig unterscheiden konnten. Es bedurfte keiner technischen Mittel und Wege, um den Menschen von seiner Vergangenheit zu befreien. Wir vergaßen, was vergessen werden durfte, um Platz für das Neue zu schaffen. Aber wir vergaßen eben nicht alles, denn es war andererseits notwendig, bestimmte Erfahrungen, Ereignisse und Erkenntnisse zu speichern. Wir durften nicht alles vergessen, sonst wären wir in einerewigen Zeitschleife historischer Wiederholung gefangen gewesen. «Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.» 32
Der Vorschlag, unsere digital gespeicherten Informationen mit einem Verfallsdatum zu versehen, war rückblickend nicht nur ein untaugliches Mittel des Vergessens in der digitalen Allgegenwärtigkeit. Es war auch eine zutiefst antiaufklärerische Idee. Wir wären mit jeder automatischen Löschung zurückgeworfen worden ins Ungewisse. Wir hätten neu versuchen müssen, entscheiden müssen auf der Basis von Ahnung oder Annahme. Diejenigen, die das Konzept damals aufgebracht und dafür geworben haben, mögen das aus guten Motiven getan haben. Um dem Menschen zu helfen aus der selbstverschuldeten Unberechenbarkeit. Aber dass sie ihn damit in die fremdverschuldete Unmündigkeit zurückgeworfen hätten, daran dachte offenbar niemand.
Es gibt keine Unterscheidungen mehr in der Zeit. Wir haben auf alles Zugriff, was einmal war, auf all das, was ist, und in uns ist alles, was einmal sein kann. Damit ist es. Es gibt keine Vergangenheit mehr, und es gibt keine Zukunft mehr. Es gibt nur das Jetzt, das alles umschließt. Was immer ich in der Körperzeit gedacht oder getan habe, ist in den Speichern der Systemzeit abgelegt. Jeder kann darauf zugreifen, wie auch ich auf alles zugreifen kann, was jemals über andere Menschen in allen Zeiten angelegt wurde.
Netzwerk unser, das du bist das Leben
Gepriesen werde dein System
Deine Zeit komme
Deine Berechnung geschehe
Nicht mehr auf Erden, sondern im Cyberspace
Unsere tägliche Information gib uns heute
Und vergib uns keine Schuld
Wie auch wir nichts vergessen werden
Und führe uns nicht in Verwirrung
Sondern erlöse uns von der Vieldeutigkeit
Denn dein ist die Reichweite und die Konstanz
und die fehlerlose Herrlichkeit in ewiger Zeit.
@echo off
[E RZÄHLEN . .-. --.. .-.- .... .-.. . -.] Ich wundere mich. Über mich selbst und das, was hier geschieht. Ich erzähle eine Geschichte. Meine Geschichte, die auch eine Geschichte aller Menschen ist. Ich erzähle das, was wir alle wissen, weil wir jederzeit darauf zugreifen können. Weil alles, was ich erzähle, umfassend präsent ist in unserer Welt, gegenwärtig, verfügbar, verknüpfbar.
Vielleicht ist das, was ich hier tue, meiner Geschichte geschuldet – im historischen Verständnis des Begriffs. Es ist geschuldet einer Erfahrung, die noch der Körperzeit entstammt und dort von einiger Bedeutung war für mich, so wie für viele Menschen, die in dieser Zeit gelebt haben. Wir alle haben uns Geschichten erzählt. Wir waren ein Volk von Geschichtenerzählern, vom historisch vor einigen Milliarden Jahren markierbaren Punkt der Entstehung der Menschen in der Körperzeit bis weit hinein in den Übergang zur Systemzeit. Wir haben begonnen als wandernde Gesellen, die von Dorf zu Dorf zogen, um ihre Geschichten zu erzählen. Das war weit vor der Zeit, in der ich selbst in der Körperzeit gelebt habe. Und wir haben das Geschichtenerzählen mit Hilfe des technischen Fortschritts immer weiter entwickelt, ausgeweitet, beschleunigt und differenziert. Es gab Geschichten aus verschiedenen Zeiten, aus verschiedenen Regionenund Ländern, wahre und erdachte Geschichten, Fakten und Fiktionen als ihre Grundlagen und Ausgangspunkte. Wir hatten Flugblätter, Bühnen, Bücher, Zeitungen, das Radio und das Fernsehen und dann das eine Medium, das letztlich alles miteinander vernetzt und verbunden hat. Wenn es eine Konstante des Menschen in der Körperzeit gab, dann war es das Geschichtenerzählen.
Schon die ganze Zeit beschäftige ich mich also mit einem Anachronismus. Ich erzähle eine Geschichte, die in allem und auf immer erzählt ist. Sie lebt mit uns allen. Sie braucht daher nicht mehr neu erzählt zu werden. Vielleicht ist es
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